Roberto Milleddu, Musikethnologe
Im mittleren Norden Sardiniens haben sich bis heute tief verwurzelte Praktiken mehrstimmigen Gesangs erhalten, die auf mündlicher Tradition beruhen und sich großer Beliebtheit erfreuen. Sie führen Hunderte von Menschen unterschiedlichen Alters und verschiedenster Schichten zusammen und sind profunder Ausdruck der kulturellen Werte und der Identität der Gemeinschaft.
In der Tat sind diese Praktiken mit der Kultur des “Landes” verbunden, sind eines ihrer herausragenden und auffallendsten Merkmale; sie begleiten wichtige Momente im Leben der Menschen, angefangen bei der einfachen Unterhaltung unter Freunden bis hin zu Festen und wichtigen religiösen Riten wie z.B. der Karwoche.
Es handelt sich um polyphone Gesänge mit vier Männerstimmen a parti reali, die ähnliche strukturelle Merkmale aufweisen, sich aber in einigen Aspekten unterscheiden, etwa in Bezug auf die Vokalität (insbesondere das Timbre), das Repertoire und die verschiedenen Kontexte der Aufführungen. Diese vier Stimmen überlagern sich, hauptsächlich um Akkorde in der Grundform (1-8-5-10) zu bilden, verlaufen aber überwiegend parallel. Im größten Teil dieser Gebiete heißen diese Stimmen, ausgehend von den tiefen: bassu, còntra, boghe und mesu boghe.
Ihre Struktur vereint zwei wichtige Modalitäten des traditionellen polyphonen Gesangs in Sardinien: diejenige die heute, vereinfacht gesagt, als a tenore-Gesang bekannt ist, bei der die beiden tiefsten Stimmen sich durch eine raue gutturale Klanggebung auszeichnen, und die als a cuncordu-Gesang bekannte, in der diese tiefen Stimmen eine natürliche Klangfarbe haben.
Diese Modalitäten sind gewissermaßen zwei Seiten einer Medaille, und wenn wir Unterschiede finden wollten, könnten wir sagen, dass der sogenannte a cuncordu-Gesang eher dazu dient, religiöse Texte (paraliturgische, liturgische und andachtsvolle) zu interpretieren, während der a tenore-Gesang vorwiegend „weltlicher“ Natur ist und Themen besingt, bei denen es um Liebe, Satire, Politik und Gesellschaft geht. Beide Modalitäten haben gleichwohl eine sakrale wie eine profane Seite.
Der a tenore-Gesang: die lokale Ausdehnung
Obwohl der Begriff cantu a tenore heute allgemein benutzt wird, um das Genre als solches zu bezeichnen, sollte man wissen, dass es nur einer von vielen Namen ist, unter der diese Praxis in den verschiedenen Gemeinschaften, wo so gesungen wird, firmiert (andere Bezeichnungen sind zum Beispiel cuncordu, ussertu, cuntzertu, cuntrattu, consonu).
In der Tat hat jede Ortschaft ihren Stil (der moda, traju, tràgiu, tradzu oder tratu heißt), der ihren Gesang einzigartig und erkennbar macht und sich auf unterschiedliche Weise manifestiert, etwa im stimmlichen Ausdruck, in der Klangfarbe, der Art der verwendeten Nonsens-Silben sowie in den rhythmischen Aspekten und melodischen Modellen. Dies bedeutet, dass jede Gemeinschaft von den mehr als siebzig, wo diese Art des Gesangs noch heute lebendig ist, sich durch die Besonderheiten ihres Gesangs auszeichnet, und diese Besonderheiten werden von der weit verstreuten Gemeinschaft der Sänger und Enthusiasten erkannt.
Sosehr das Genre als Ausdruck einer bukolischen Kultur gilt, vor allem im mittleren Sardinien, in Barbagia – in Städtchen wie Orune, Orgosolo, Bitti, Mamoiada, Fonni, Lodè, Oniferi und anderen – wird es heute von jungen und alten Menschen aller sozialen Schichten (Schäfer, Bauern, Handwerker, Fachleute, Lehrer usw.) gepflegt.
Wie man singt
Wenn wir eine a tenore-Gesangsdarbietung sehen und hören, werden wir gleich feststellen, dass neben der ausgeprägten und unverwechselbaren Klangfarbe bei dieser Praxis das Spiel zwischen der führenden Stimme, sa boghe genannt, und den anderen drei Teilen im Mittelpunkt steht. Dabei ist sa boghe die einzige Stimme, welche die Wörter des Textes artikuliert, denn die anderen begleiten sie mit Nonsens-Silben (zum Beispiel bim-bam-birambambò; bam-bam bambarà; lelle-re usw.). Sa boghe ist zuständig für die Auswahl des zu singenden Textes, je nachdem, ob es sich um ein a sa seria-Stück oder um einen Tanz handelt (siehe unten). Sie beginnt mit einer Solointonation, auf welche die anderen drei Stimmen im Wechsel zwischen Solo und Chor antworten. Die Stimmen dienen, wie gesagt, der Unterstützung des Solisten, indem sie kleine melodische Bewegungen ausführen, die je nach lokalem Stil variieren; von den vier Stimmen ist der Bass normalerweise der statischste Teil, der die Note mehrmals wiederholt, ohne ihre Tonhöhe zu ändern.
Ein nicht irrelevanter Aspekt der Aufführung ist die Anordnung der Sänger – im Kreis oder, bei sa boghe, leicht dezentriert –, sowie deren Haltung und Mimik, welche die Stimmung des Gesangs unterstreichen.
Was gesungen wird
Die Sänger der verschiedenen Ortschaften singen Texte im logudoresischen Dialekt des Sardischen, der im mittleren Norden der Insel gesprochen wird. Das Repertoire umfasst in der Regel drei Hauptgenres:
- sa boghe a sa seria (wobei boghe / Stimme ein Synonym von Gesang ist) oder bogh’e note (Stimme der Nacht), wobei die Auswahl des Textes besonders wichtig ist. Er wird oft den Werken der großen Dichter des Sardischen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts oder denen zeitgenössischer Dichter entnommen. Der Gesang setzt sich normalerweise aus zwei Hauptteilen zusammen: aus der s’isterrida (Einleitung), die aus einem Wechselgesang zwischen Solisten und Chor besteht, und der sa zirada (Wende), was der zentrale Teil des Liedes ist, der durch einen Rhythmuswechsel den Chor zum Einsatz bringt, der den Solisten überlagert.
- sa boghe a ballu, der zur Tanzbegleitung dient und wo der Text eher ein Vorwand ist, um den Tanz rhythmisch zu begleiten. Diese Art von Gesängen haben einen ausgeprägten Rhythmus, der von den tiefen gutturalen Stimmen gut skandiert wird. Das Repertoire der einzelnen Gemeinschaften besteht aus bis zu vier Tanzarten, welche Texte mit unterschiedlichen metrischen Formen verwenden.
- sos mutos, die polyphone Intonation einer besonderen Art von Poesie mündlicher Tradition.
Die von den a tenore-Gruppen gesungenen Themen gehören großenteils zum Genre der Liebeslieder, aber sie enthalten auch Bezüge zur traditionellen Kultur der einzelnen Ortschaften, satirische Texte und sogar politische und soziale Forderungen. Das geistliche Repertoire ist im Vergleich zum weltlichen eher gering und besteht hauptsächlich aus Lobliedern (gosos) und pregadorias (Gebeten).
Der tenore, als Trio (Bassu, Contra, Mesu–boghe,) zu verstehen, dient auch zur Begleitung von Dichtern bei Vorträgen von Stehgreiflyrik im ottava rima (Stanze), was für den logudoresischen Sprachraum typisch ist. Sie erfreuen sich in den verschiedenen Ortschaften der Insel heute noch großen Zuspruchs.
Wo man singt
Wie in der Vergangenheit wird auch heute noch der a tenore-Gesang in informellen Kontexten oder in Bars (Tzilleris) gesungen, aber auch bei religiösen, zivilen und familiären Festen, bei den sogenannten ispuntinos (oft auf dem Land stattfindende gesellige Treffen zwischen befreundeten Gruppen). Die Praxis der nächtlichen Serenaden dagegen ist heute nicht mehr lebendig.
Zu dieser “privaten” / gemeinschaftlichen Ausübung kam im späten zwanzigsten Jahrhundert eine andere hinzu, zunächst im Zusammenhang mit Folkloreshows, die von staatlichen und regionalen Gremien der Tourismusförderung unterstützt wurden, was in den einzelnen Ortschaften zur Bildung feststehender Quartette führte, die bei Festen oder bei spektakulären Veranstaltungen auftreten, Konzerte, die es so in Italien wie überall auf der Welt gibt. Die Bildung dieser Gruppen hat seit den 1960er Jahren auch die Entstehung einer umfangreichen kommerziellen Diskographie begünstigt, auf lokaler Ebene wie darüber hinaus. Genau diese Ausstrahlung über die traditionellen Bereiche hinaus hat es der UNESCO im Jahr 2005 ermöglicht, den a tenore-Gesang in die Liste des immateriellen kulturellen Welterbes aufzunehmen.
Ein archaischer Gesang?
Beim Surfen im Internet findet man oft Seiten, die den a tenore-Gesang mit Adjektiven wie “archaisch”, “altertümlich” oder ähnlichen bezeichnen und seine Ursprünge bis in die Nuraghenzeit (Bronzezeit) zurückverfolgen, oder die ihn mit der Nachahmung von Geräuschen der Natur oder von Tierlauten in Verbindung bringen. All dies, ohne zu bedenken, dass es unmöglich ist, den zeitlichen Ursprung einer mündlich tradierten musikalischen Praxis zu fixieren. Zumal die wenigen historischen Quellen, die diese Art des Gesangs erwähnen, aus dem späten achtzehnten, wenn nicht gar neunzehnten Jahrhundert stammen. Erst 1929 wurde die erste Aufnahme mit 78U/min gemacht, und ab den 1950er Jahren begannen Wissenschaftler, intensive Feldforschungen zur Klangdokumentation durchzuführen.
Gleichzeitig sind alle oben erwähnten “naturalistischen” Theorien zu hinterfragen. Sie entstanden oft im Umfeld von Enthusiasten und wurden von verschiedenen Autoren aufgegriffen. Wenn diese Theorien einerseits wie plausible Metaphern für die Phonosphäre der agropastoralen Welt wirken, entbehren sie doch jeglicher wissenschaftlicher Grundlage. Auf der anderen Seite gibt es verschiedene Indizien, angefangen bei der Struktur der Akkorde oder einigen fachsprachlichen Begriffen, die lokal verwendet werden, um die Praktiken oder die verschiedenen Stimmen zu bezeichnen (cuntzertu-concerto, tenore-Tenor, bassu-bassus; contra, contra-Tenor, cuntraltu-contra altus usw.), die auf eine irgendwie geartete Verbindung zu Formen der europäischen Polyphonie des Spätmittelalters und der Renaissance hindeuten, wie z.B. der sogenannte “falsobordone”.
Eine kürzlich durchgeführte Volkszählung hat ergeben, dass über 3000 Menschen in fast 70 Ortschaften Sardiniens den a tenore-Gesang pflegen; ein erheblicher Prozentsatz von ihnen ist unter 30 Jahre alt. Dies ist vielleicht der offensichtlichste Beleg dafür, wie trotz der Globalisierungsszenarien, welche die heutige Welt kennzeichnen, diese Praxis des mehrstimmigen Gesangs, der zu Unrecht als archaisch angesehen wird, immer noch in der Lage ist, die hier und jetzt Lebenden in ihren Bann zu ziehen und zu faszinieren.
Roberto Milleddu ist außerordentlicher Professor für Ethnomusikologie am Palestrina Konservatorium von Cagliari. Seine Forschungsgebiete reichen von Organologie über historische Musikethnologie bis hin zu mehrstimmigem Gesang. Er interessiert sich für die Beziehung zwischen Massenmedien und den musikalischen Praktiken mündlicher Tradition. Er hat Aufsätze und Monographien zu Themen der Musikethnologie, Organologie und Musikgeschichte veröffentlicht. Er arbeitet mit Labimus (Laboratorio Interdisciplinare sulla Musica – Interdisziplinäres Musiklabor) der Universität Cagliari an großen nationalen und internationalen Forschungsprojekten zusammen. E-Mail: raxmeger@gmail.com
Übersetzt aus dem Italienischen von Reinhard Kißler, Deutschland