Das NAGAMO Chorprojekt in Kanada: ein Austausch von Musiktraditionen für eine respektvolle Zukunft

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Interview von Isabelle Métrope, Chefredakteurin des International Choral Magazine

NAGAMO IST EIN CHORKOOPERATIONSPROJEKT ZWISCHEN MUSICA INTIMA, DEM SHALLAWAY YOUTH CHOIR, KORORA-CHÖREN UND verschiedenen SOLOSÄNGERN, DIE GEMEINSAM ANDREW BALFOURS NAGAMO AUFFÜHRTEN, EIN EINZIGARTIGES MUSIKSTÜCK, DAS DIE ENGLISCHE RENAISSANCE UND KANADISCHE INDIGENE KULTUREN UMSCHLIESST.

Können Sie das NAGAMO-Projekt in wenigen Worten beschreiben?

Jacob Gramit (JG) musica intima: Im Kern ist NAGAMO eine Idee: Andrews phantastische Vorstellung davon, wie sich der kulturelle Austausch zwischen Siedlern und indigenen Völkern besser hätte entfalten können. Dieser Gedanke äußert sich in der Musik, in der Konzertstruktur, in der Zusammenarbeit mit anderen Ensembles und Künstlern; vor allem aber ist es ein Schritt in Richtung einer Versöhnung durch Chormusik. 

Scott Leithead (SL) Korora-Chöre: Was das Musikstück selbst betrifft, so ist NAGAMO eine Neuinterpretation von Chorwerken der englischen Renaissance, die durch das Prisma indigener Spiritualität erlebt werden. Andrew Balfour betrachtet es als die Erkundung eines anderen Geschichtsverlaufs, in dem Siedler und indigene Völker erste Beziehungen aufgebaut hätten, die auf gegenseitigem Respekt und Anerkennung beruhten.

Was ist die Botschaft von NAGAMO?

SL: NAGAMO zeigt uns, dass in der kanadischen Chormusik eine Chance liegt, einen neuen Chorkanon aufzubauen, der indigene Sprachen und Stimmen mit den bei uns bereits bestehenden kolonialen Chortraditionen zusammenbringt, um gemeinsam Wege zu finden, die zu einer Versöhnung führen.

JG: Im Laufe der Aufführungen ergründen wir Themen wie Gastfreundschaft, Überlebenskampf, Trauer und letztendlich Hoffnung. Ich hoffe also, dass das Publikum sich sowohl gefordert als auch zufriedengestellt fühlt – sich aber gleichzeitig fragt, was jeder in seinem Leben tun kann, um zu einer Dekolonisierung beizutragen, sei es durch Kunst, Wirtschaft oder etwas anderes.

Was war der Impuls, der NAGAMO ins Leben gerufen hat?

JG: Andrew hatte die Idee, Musik von William Byrd in indigene Sprachen zu übersetzen, und musica intima war von der Idee begeistert. Wir haben Andrew im Wesentlichen gesagt, dass wir dieses Projekt mitmachen wollten, wie immer es aussehen würde – und auf dieser Basis entwickelte er das Konzept, das Repertoire und alles weitere. Es begann mit einem einmaligen Konzert in Vancouver, und wir merkten schnell, wie sehr es wachsen könnte, also machten wir eine Aufnahme und begannen mit der Planung unserer ersten Tournee durch Kanada.   

Wie ist der Aufbau des Stückes im Hinblick auf die verschiedenen Akteure – Chöre, Solisten, Trommler?

JG: Über das reine Konzert hinaus wollte Andrew ein größeres Ereignis schaffen – er stellte das Konzert als “Zeremonie der Heilung und des Respekts” vor – und dazu gehörte sein Vorschlag, lokale Liedermacher einzuladen, ganz gleich von welcher Stelle aus, die am jeweiligen Abend als eine Art Leitfaden dienten. In Vancouver hatten wir das Glück, mit Lexwst’í:lem, einer lokalen Schlagzeugergruppe, zusammenzuarbeiten, und während unserer Tournee durch Kanada arbeiteten wir mit Cory Campbell, Rosary Spence, Sherryl Sewepagaham und Deantha Edmunds zusammen (die sowohl als Solisten als auch gemeinsam mit unseren Chören einige ihrer Musikstücke präsentierten). Als wir die Tournee planten, wollten wir sicherstellen, dass nicht nur musica intima auftrat, sozusagen mit Fallschirm eingeflogen, daher haben wir uns bemüht, überall mit Jugendinstitutionen in Kontakt zu treten und eine Zusammenarbeit auch auf anderer Ebene zu erreichen. So haben wir mit dem Toronto Children’s Chorus und dem Youth Choir, Ensembles der Western University, dem Shallway Youth Choir, der University of Manitoba und den Korora Choirs zusammengearbeitet, und wir haben überall endlos viel von den jungen Sängern gelernt, wobei ich weiß, dass auch sie sehr viel durch die Arbeit mit Andrew aus erster Hand gelernt haben. Die Veranstaltungen, die am Ende jedes Workshops stattfanden, waren immer etwas sehr Besonderes – eine wunderschöne Zusammenarbeit, bei der sich viele verschiedene Künstler vorstellen konnten und sich alle vereinten, um der Musik und den zentralen Ideen von NAGAMO Ausdruck zu verleihen. 

SL: Mit musica intima einige von Andrews Werken – inklusive einige Stücke aus NAGAMO – zu singen hat es uns ermöglicht, Andrews Vision zu erkunden und auf Ojibway zu singen, während wir gleichzeitig Musik der englischen Renaissance aufführten. Außerdem haben wir jedes Konzert mit einer Begrüßung, einem Segen und der Anerkennung ihres Landbesitzes begonnen, was von einem indigenen Ältesten der Ortschaft vorgetragen wurde.

Was sind die Themen der Musikstücke, die in NAGAMO enthalten sind?

SL: Andrew Balfour beschreibt den Text als Erforschung und Ausdruck indigener Spiritualität, wobei er aber auch die Resonanz zwischen den Originaltexten der Stücke (von denen die meisten auf Lateinisch, aber einige auch auf Englisch waren) und dem Text erkennt, der von Anton vertont worden war.

Was waren die Erwartungen von musica intima / Korora / Shallaway vor dem Beginn der Kooperation?

JG: Wir wussten nicht so recht, was uns erwarten würde, weder zu Beginn des Projekts noch zu Beginn der Tournee! Aber dann kam Andrew hinzu und arbeitete völlig harmonisch mit musica intima zusammen. Er machte dabei nicht den Eindruck eines “Gastregisseurs”, so sehr das auch seine Rolle war – es schien eher so, als hätten wir ein dreizehntes Mitglied im Raum. Wir hatten das Glück, dass Andrew bei den Auftritten am Ende der Tournee immer mit uns zusammen sang, und es fühlte sich so an, als ob wir alle auf wunderbare und harmonische Weise zusammengehörten.   

Wie haben die Chorsänger – und ihre Dirigenten! – das Projekt erlebt?

SL: Unsere Sänger beschrieben ihre Zeit mit Andrew als ob der Musik der Atem des Geistes eingehaucht würde. Bevor sie die Gelegenheit hatten, mit ihm zu arbeiten, schien alles ein wenig ungewohnt und außerhalb ihres bisherigen Erfahrungsbereichs. Einige unserer Sänger waren an den Stil und das Genre der polyphonen englischen Renaissancemusik gewöhnt, während es für einige unserer jüngeren Mitglieder Neuland war, aber alle waren sich einig, dass sie Andrews Auffassung der Werke mochten, was ihnen eine neuartige und andersartige Verbundenheit mit der Musik bescherte.

Nagano Poster by Sonny Assu

JG: Ich habe von so vielen Sängern der musica intima gehört, dass dies eines der schönsten Projekte war, an denen sie je beteiligt waren. Es war einfach wunderbar, das von Andrew kreierte Werk zu singen und an ihm teilzuhaben, und nach so langer Zeit zu den Ideen und dem Repertoire zurückzukehren, war in der Welt des professionellen Chorgesangs eine einzigartige Gelegenheit. Eine unserer Sängerinnen, Katherine Evans, sagte über die von Andrew ausgewählten Texte: “Die Texte von Andrew hatten eine andere, vom Text des Originals abweichende Bedeutung, aber die universelle Bedeutung war die gleiche. Dabei waren diese Texte in der Regel kurz und sehr stimmungsvoll…und so war ich in der Lage, mich mit ihnen zu vereinen und sie wirklich zu singen – es ist so viel leichter, alles zu verinnerlichen…wenn man sie über einen längeren Zeitraum singen kann und das mit einer Musik, die so schön ist und die man mit anderen Menschen teilen kann…auf diese Weise sind diese Worte irgendwie zu einem Teil meiner selbst geworden…ich glaube, dass diese Worte, wenn sie einmal in deinem Herzen sind, dort auch bleiben werden.“

SL: Der größte Teil der NAGAMO-Musik wurde ohne Dirigenten aufgeführt, was ja zur Tradition von intima gehört. Dies war eine große Herausforderung, aber auch eine Chance, die unsere Chöre, die daran gewöhnt waren, dass einer von uns mit seinen Armen wedelt, enorm bereichert hat! Wir Chorleiter genossen es zu sehen, dass unsere Sänger ihre Musikalität und Unabhängigkeit sich so besser zu eigen machten, als es normalerweise nötig ist.

Was waren die Herausforderungen für die Chöre beim Singen dieses Musikstücks? Musikalisch wie sprachlich?

SL: Vor dem Treffen von Andrew mit musica intima gab es zwei Probleme: Erstens, dass die Polyphonie der englischen Renaissance schwierig sein kann, insbesondere für jüngere und/oder weniger erfahrene Sänger; zweitens, dass wir Wege finden mussten, um zu verstehen, wie sich Andrews Ojibway-Text mit der Musik eines anderen Zeitalters verbinden ließ. Als wir dann mit musica intima und Andrew zusammenarbeiteten, verstanden wir diese Zusammenhänge und es kam nun darauf an, der Musik auf freudige und tiefgründige Weise Ausdruck zu verleihen.

Inwiefern kann dieses Projekt richtungsweisend für eine Neugestaltung der Chorkunst sein?

JG: Meine größte Hoffnung ist, dass dieses Projekt anderen Ensembles die Möglichkeit gibt, ihre Kontrolle aufzugeben. Wir, die zwölf Künstler von musica intima, empfanden immer etwas Scheu vor externen Kuratoren. Aber gerade durch sie kam es zu einer spannenden Zusammenarbeit, zu anderen Perspektiven außerhalb der unsrigen. Für Ensembles mit einem festen künstlerischen Leiter, insbesondere auf Turtle Island (Nordamerika), haben wir dieses Modell vor Augen: Ich fordere die Chorleiter auf, über ihre eigenen Ideen hinauszuschauen und Veranstaltungen mit anderen Künstlern zu planen. Dabei spielt das Repertoire auch eine große Rolle – wer ist in deinen Programmen nicht vertreten? Die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern ist derart befriedigend – diese Freude wünsche ich allen Chorsängern und künstlerischen Leitern.   

Sind weitere Konzerte oder Kooperationen geplant?

JG: Ich hoffe, dass musica intima noch des Öfteren mit Andrew zusammenarbeitet – wer weiß, welche Projekte sich im Laufe der Zeit ergeben. Wir haben über das Ende dieser NAGAMO-Tournee lediglich als das Ende eines ersten Kapitels gesprochen. Es gibt noch so viele andere Orte, wo wir unser Projekt vorstellen können. Ich bin mir sicher, dass es dazu kommen wird.

 

WendyD Photography
Jacob Gramit ist ein in Vancouver lebender Siedlerbariton, der sich auf die Musik des Barocks und der Renaissance spezialisiert hat.  Nach dem Studium der Alten Musik in den Niederlanden kehrte er in die den Musqueam-, Squamish- und Tsleil-Waututh-Stämmen geraubten Länder und zu musica intima zurück, deren künstlerischer Leiter er seit 2020 ist. jacob@musicaintima.org
musica intima wurde 1992 gegründet. Es ist ein kollaboratives Vokalensemble ohne Chorleiter, das sich schon auf den Bühnen der ganzen Welt mit kanadischer Musik präsentiert hat. Das System der geteilten Leitung gibt den zwölf Mitgliedern die Möglichkeit, sich frei auszutauschen und ihre individuelle musikalische Kreativität zu entwickeln. www.musicaintima.org
Scott Leithead ist Gründer und künstlerischer Leiter der Korora Choir Association in Edmonton. Er wurde bereits fünfundzwanzig Mal eingeladen, provinzielle und staatliche Ehrenchöre zu dirigieren. Er hat schon eine Reihe von Workshops in Nordamerika und andernorts veranstaltet. Zu seinen bemerkenswerten Auftritten gehörten das Tampere International Festival in Finnland, wo er Teil der Jury war; die Leitung des Ellison Canadian Honour Choir; und die Eröffnung des Summer Conducting Symposiums der University of Toronto. Er war Juror des kanadischen Chorwettbewerbs für Amateurchöre und des Kathaumixw International Choir Festivals.
Korora ist das Flaggschiff-Ensemble der Korora Choirs in Edmonton. Korora hat auf der Bühne des kanadischen Nationalfestivals durchweg Top-Platzierungen erhalten, konzentriert sich aber weiterhin auf die Ausbildung junger Sänger und bietet dem Publikum innovative musikalische Darbietungen. office@kororachoirs

Das Konzert, das wir am 11. März in St. John’s gaben, war sehr bewegend, sowohl für die Künstler als auch für das Publikum.

Deantha Edmunds, solist von NAGAMO

Beim NAGAMO-Konzert mit musica intima, dem Shallaway Youth Choir und Ullugiagâtsuk habe ich ein Solo namens Avani (was auf Inuttitut “im Norden” bedeutet) gesungen. Ich habe meinen Auftritt der Jugend von Ullugiagâtsuk gewidmet, die aus Nunatsiavut (der angestammten Heimat der Labrador-Inuit) angereist war, um mit uns zu singen. In diesem Song geht es um Mut, Ausdauer und den Stolz darauf, wer du bist und woher du kommst. 

“Geht bis ans Ende der Welt!

Der Gipfel des Berges fordert dich auf, dich über ihn hinaus zu erheben,

Von früh bis spät, im Glauben und Vertrauen.

*Tutsiak, IssoKangitumut, katinngak.

Avani… Avani!”

(*Inuttitut für “für immer zusammen singen…hoch im Norden’).

Der Song “Avani” ist auf Deanthas jüngstem preisgekrönten Album Connections zu hören.

Ich habe auch ein Originallied namens Legacy gesungen, als Solistin in einem Chorarrangement von Leslee Heys für Streichquartett und Oboenbegleitung. Ich habe dieses Lied geschrieben, um die Stimmen der verschleppten und ermordeten indigenen Frauen, Mädchen und Two-Spirit + -Menschen zu ehren. Ich wollte diesen verlorenen und verschleppten Schwestern mitteilen, dass wir sie nie vergessen und unsere Liebe für sie für immer in uns tragen werden.

Es war eine Ehre und ein unglaubliches Erlebnis, dieses Lied als Solistin mit den Kooperationschören aufzuführen, die vom Atlantic String Quartet und der Oboistin Annie Corrigan begleitet wurden. Wir haben auf Englisch und der Chor auch auf Inuttitut gesungen.

Photo: Jennie Williams
Deantha Edmunds ist Kanadas erste professionelle Inuk-Sängerin klassischer Musik. Durch Auftritte, Schreiben und Komponieren möchte sie die indigenen Völker stärken und ihre Geschichten teilen. Deantha arbeitet aktiv an der Komposition origineller Werke, betreut junge indigene Künstler und singt aus tiefstem Herzen, wodurch sie in Kanada und der Welt die Blicke auf sich zieht. deanthae@hotmail.com

Übersetzt aus dem Englischen von Reinhard Kißler, Deutschland

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