Giovanni Cestino, Musikwissenschaftler
Wie das meiste in unserem täglichen Leben kann nicht einmal das Musizieren (in diesem Fall die Chormusik) den dauernden Einfluss von Technologie vermeiden und wird sich in vielen Bereichen den Möglichkeiten unterwerfen, die das Internet bietet. Denken Sie für einen Augenblick zurück an Ihr letztes Konzert (und verzeihen Sie dem Autor, dass er Sie in der aktuellen Situation daran erinnert): wie viele der verwendeten Noten kamen aus dem Internet anstatt aus einer Buchhandlung? Wie oft haben Sie sich eine Aufführung irgendwo online angehört, und wie oft haben Sie allein mit dem Klavier oder in einem Chor geprobt? Wie oft haben Sie ein Exemplar bequem von Ihrem Schreibtisch aus gekauft anstatt persönlich beim Musikalienhändler Ihres Vertrauens? Sie werden kaum Antworten erhalten, die nicht irgendeine Art und Stufe von technologischem Einfluss beinhalten – und das ist gar nicht schlimm. Die Beobachtung, dass in unserer Chorarbeit alles digital wird, kann uns aber dazu inspirieren, bewusster in die Zukunft zu gehen, vor allem in dieser Phase der Überbetonung der virtuellen Welt, in der wir uns gerade befinden.
Dieser Satz findet sich in allen Sprachen: Das Internet ist eine Enzyklopädie (um den Begriff des Schriftstellers und Philosophen Umberto Eco zu verwenden), die nicht immer verlässlich ist, da sie das Ergebnis eines unaufhaltsamen Schwalls von Aktionen ist, die unabhängig oder auch kollaborativ, aber nicht immer verifiziert sind, und die unter dem Strich für uns alle leicht und in großem Umfang verfügbar ist. Aus diesem Blickwinkel gesehen hat die Chormusik sicher einen privilegierten Platz, wenn wir bedenken, dass zwischen den virtuellen Archiven mit Musiktexten wie zum Beispiel dem bekanntesten, dem International Music Score Library Projekt (IMSLP), die Welt der Chormusik die einzige ist, die von einer Plattform profitiert, die sich nur auf ihr eigenes Repertoire ausrichtet, die Choral Public Domain Library (CPDL).
Auch bei den Einträgen auf Wikipedia variiert die Qualität der fast 35.000 Notenausgaben, die von Benutzern aus aller Welt beigesteuert werden, bezüglich der Verlässlichkeit und Genauigkeit, stark; sie reicht von einer Art do-it-yourself-Philologie, gesammeltem Material, das dem Redakteur direkt zur Verfügung stand, das aber mit wenig methodologischer Strenge Aufnahme fand, bis zu einer unlogischen Übertragung von mensuraler Notation mit einigen zu vielen Bs für die Tonart…. Die gleiche Schwankung in der Qualität findet man in der Begleit-Information zu enthaltenen Werken (wenn Sie einen Vorgeschmack davon haben möchten, empfehle ich Ihnen die Seite “Matona, mia cara” von Orlando di Lasso).
Trotzdem sollten solche Gemeinschaftsprojekte, die es allen Benutzern erlauben, sich uneingeschränkt einzubringen, nicht als solche stigmatisiert werden, vor allem wenn es so glückliche Ausnahmen gibt wie GregoBase, eine Datenbank mit gregorianischen Notensätzen. Sie wurde ausschließlich von Freiwilligen geschaffen und ragt heraus bezüglich ihrer Reichhaltigkeit, Genauigkeit und – was am wichtigsten ist – der Nachprüfbarkeit der enthaltenen Informationen.
Eine weitere Sache ist der lobenswerte Ansatz, wissenschaftliche Veröffentlichungen online verfügbar zu machen. Neben den etablierten Werken wie die bekannte Neue Mozart-Ausgabe (NMA) oder die New Guillaume Du Fay Opera Omnia, die leider von Alejandro Enrique Planchart nicht vollendet wurde, gibt es innovativere wie die Marenzio Online Digital Edition (MODE) oder die Gaffurius Codices Online (GCO), die alle Möglichkeiten von digitalem Hypertext und erstaunlich vielfältigen Tools für Studien und Untersuchungen enthält.
Wir können deshalb die großen Vorteile des Internets für “Eroberungen” in unserem täglichen Umgang mit aufgezeichneten Noten nicht ignorieren, die genauso für jedes digitale Archiv gelten wie für die vielen bibliographischen Hilfsmittel, die uns zur Verfügung stehen. In der Tat sollte heute eine Suche nach einem musikbezogenen Text ohne Ausnahme entweder durch einen öffentlich zugänglichen Katalog wie zum Beispiel OPACs von individuellen Bibliotheken, nationale OPACs oder META-OPACs wie WorldCat oder aber über Verzeichnisse wie das RISM (International Inventory of Musical Sources) durchgeführt werden. In allen Fällen sollte ein Prinzip immer gelten: höre niemals nach dem ersten Klick auf. Suche weiter, sei neugierig, und vor allem: stelle in Frage, was Du findest. Wende die gleiche Sorgfalt an bei der Auswahl der grundlegenden Aufführung, die Du auch bei jeder anderen interpretativen Entscheidung anwenden würdest.
Beim Übergang vom Text zur Aufführung – oder besser: in der kontinuierlichen Beziehung zwischen diesen zwei Säulen des Musizierens – wird das Potential für digitale Technologien immer bedeutender, sowohl in offenen Formaten als auch bei proprietären Produkten. Neben Plattformen wie Choralia mit ihrer großen Auswahl an MIDI-Dateien zum Studium der Noten finden sich auch Verlags-Initiativen wie die des Carus-Verlages, mit dessen App man die verschiedenen Ausgaben in ihrem Katalog auf mobilen Geräten untersuchen kann. Man kann Teile aus einer professionellen Aufnahme hervorheben und dann dazu singen, die Geschwindigkeit zum Proben komplexer Passagen reduzieren oder leicht von einer Stelle in den Noten zu einer anderen springen, indem man auf den Bildschirm tippt. Apps wie diese verändern auf bedeutende Weise die Art, in der die Technologie des Notenlernens stattfindet, und es ändert auch die Zielstellung der Herausgeber von Noten: sie drucken nicht mehr nur einfach die Noten, sondern wollen innovative Werkzeuge zum Studieren der Noten anbieten.
Von den Noten bis zur Aufführung haben digitale Technologien Stück für Stück ihren Platz auch in der Aufführung gefunden. Auch wenn das Leuchten von Yuja Wangs iPad nicht mehr für Schlagzeilen sorgt, trifft es zu, dass immer mehr Verlage der Verlockung der digitalen Verteilung erliegen, sodass es neben Stores für Apps und e-Books jetzt auch Stores für Noten gibt. (Wenn Sie davon noch nicht gehört haben, geben Sie “nkoda” in Ihre Suchmaschine ein.) Auch hier dient der Übergang von Papier zum Bildschirm dazu, “Erfahrungen zu sammeln”: was vorher analog geschah, muss auch digital möglich sein. Deshalb bieten alle Apps (von Bärenreiter oder Henle bis zu freien wie Piascore) die Möglichkeit, Anmerkungen einzufügen, das Seitenlayout zu ändern und vieles mehr zu machen.
Im Vergleich mit anderen Arten der Musik scheint aber die Welt der Chormusik immer noch in der traditionellen Dynamik zu stecken: Paper ist unbestritten immer noch das vorherrschende Medium auf der Bühne, vielleicht weil es eine gesunde Gleichbehandlung aller Chormitglieder fördert. Können Sie von allen dreißig Mitgliedern eines Chores erwarten, dass sie sich ein gutes Tablet zulegen (möglicherweise ein tolles e-ink Tablet wie das PadMu), selbst wenn es die Probleme der Beleuchtung, des individuellen Blätterns mitten im Konzert, des Verlustes von Kopien oder der Unfähigkeit einer Wiederherstellung irgendwo aus der Cloud lösen würde?
Die digitale Welt und das Musizieren scheinen deshalb einen langen und eleganten Tanz der Verführung und Versuchung aufzuführen, offensichtlich einen, der sich nicht davor fürchtet, sein Tempo selbst zu bestimmen. Es scheint keine Revolution im Gange oder auch nur in Sicht zu sein, und wir müssen auch nicht befürchten, Gefangene unserer alten analogen Routinen zu sein, während der Rest Welt langsam … digital wird.
Technologische Zwänge, die dazu führen, dass man bei technologischen Bedingungen landet, die nicht die besten, aber die beliebtesten sind, sollten nicht Angst machen, und erst recht kein Hindernis sein. Sind wir nicht letztlich über Jahrhunderte mit einer kollaborativen Technologie zufrieden gewesen für unsere geschriebenen musikalischen Kompositionen, obwohl diese Technik vereinfachend und unpräzise zu sein scheint?
Zuerst veröffentlicht in Choraliter 61, Mai 2020 (https://www.feniarco.it/it/editoria/choraliter)
GIOVANNI CESTINO (*1992) hat einen Abschluss in klassischer Gitarre vom Konservatorium von Alessandria, einen Master in Musikwissenschaft von der Universität in Pavia und einen Doktortitel in Musikwissenschaft von der Universität in Mailand. Er nahm außerdem an Kursen für Komposition, Chorleitung und Renaissancelaute teil. Er arbeitet zusammen mit LEAV, dem “Ethnomusicology and Visual Anthropology Lab” an der Universität in Mailand, sowie mit dem “Centro Studi Luciano Berio” in Florenz. Er ist Dozent an der Mailänder Chor-Akademie und war Gastdozent am Harvard University Department of Music. Seit 2014 leitet er den “Coro Facoltà di Musicologie“ in Cremona. Aktuell ist der postdoktorales Mitglied der Universität von Mailand.
Übersetzt aus dem Englischen von Willi Stegemeyer, Deutschland