Westliche Obertongesangstechnik und ihre Anwendung in der klassisch notierten Musik

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Von Anna-Maria Hefele, Obertonsängerin, Stimmkünstlerin und Sängerin

„Obertongesang ist eine Gesangstechnik, die aus dem Obertonspektrum der Stimme einzelne Teiltöne so herausfiltert, dass sie als getrennte Töne wahrgenommen werden und der Höreindruck einer Mehrstimmigkeit entsteht“[1]

2005 entdeckte ich das Obertonsingen über eine Radiosendung für mich, die Faszination für diese ungewöhnliche Stimmtechnik ließ mich nicht mehr los. Seither beschäftige ich mich hauptsächlich aus dem musikalischen Blickwinkel intensiv mit dem Obertongesang. Ich begann schon bald polyphon zu singen und habe auch längere Zeit im Obertonchor München gesungen. Die klassische Gesangsausbildung im Rahmen meines Studiums der „elementaren Musik- und Tanzpädagogik“ am Mozarteum Salzburg, Carl-Orff-Institut, verhalf auch meiner Obertongesangstechnik zu weiterer qualitativen Steigerung im Bezug auf die Weichheit im Klang, Klangqualität auch im Obertongesang, und der Flexibilität, zwischen klassischer und Obertongesangstechnik wechseln zu können. Durch das Obertonsingen erlernt man eine sehr genaue, bewusste Steuerungsfähigkeit für die Stimmformanten, was auch eine ganz feine Wahrnehmung für Vokal- und Klangfarben zur Folge hat. Das Obertonsingen trainiert den Atemapparat und einen dichten Stimmbandschluss in hohem Maße, was mir in der klassischen Gesangsstimme (Sopran) zu einer großen und sehr klaren sowie sauber intonierten Höhe verhalf.

2014 veröffentlichte ich ein Video, das in kürzester Zeit sehr populär wurde, „polyphonic overtone singing – Anna-Maria Hefele“ (http://youtu.be/vC9Qh709gas), über die Möglichkeiten des polyphonen Obertongesangs, da die vielseitigen musikalisch- künstlerischen Einsatzmöglichkeiten von Obertongesang noch vergleichsweise wenig im Bewusstsein von Musikern, Komponisten, Interpreten und Dirigenten vorhanden sind. Im folgenden Video, „polyphonic overtone singing- explained visually“ (http://youtu.be/UHTF1-IhuC0) sind die gezeigten Beispiele mithilfe des Echtzeit- Spektrogramms des Overtone Analyzers (www.sygyt.com) noch einfacher nachzuvollziehen. Hier sind nun Beispiele von musikalisch-technischen Möglichkeiten des Obertongesangs, wie auch im Video erklärt, dargestellt über screenshots des Spektrogramms:

A. Der Grundton bleibt stabil, der Oberton verändert sich. Dies ist die am häufigsten verwendete und am einfachsten erlernbare Variante von Obertongesang.

zungentechnik obertonreihe

B. Der Oberton bleibt stabil und der Grundton wird verändert.

grundtonwechsel oberton gleich

C. Der Grundton bewegt sich parallel mit dem Oberton. Die Tonbewegung kann im Glissando oder mit exakten Intervallen erfolgen.

grundtontreppe U-A

D. Der Grundton und der Oberton bewegen sich in die jeweils entgegengesetzte Richtung.

gegenläufige Tonleiter version 2a

Durch eine Kombination der Möglichkeiten A-D wird eine komplexe polyphone Gesangstechnik möglich.

Obertongesang lässt sich gut in zwei Notensystemen notieren. Im unteren System befindet sich die Notation der Grundstimme. Im oberen Notensystem sind die Obertöne notiert, oft eine Oktave tiefer als sie klingen. Die Ziffern zwischen den Notenzeilen bezeichnen immer das Verhältnis zwischen Grund- und Oberton, also die wievielte Harmonische der notierte Oberton in Abhängigkeit zum entsprechenden Grundton ist, unabhängig von dessen Tonhöhe.

obertonskala von d ausschnitt

Grafik: Obertonreihe vom Grundton d ausgehend. Der Grundton ist die erste Harmonische. Obertöne sind immer ganzzahlige Vielfache des Grundtons, und somit haben einige Obertöne mehr oder weniger deutliche Tonhöhenabweichungen vom temperierten Tonsystem, der Einfachheit halber gehe ich hier nicht genauer darauf ein.

Obertonmelodien werden meist im Bereich von der 4. bis zur 16. Harmonischen gesungen, da höhere und tiefere Harmonische schwierig zu filtern sind und sich auch der musikalische Nutzen verringert durch die sehr groß oder sehr klein werdenden Intervallabstände zwischen den einzelnen Obertönen. Je höher der gesungene Grundton ist, desto weniger Obertöne kann man noch oben hin singen, daher ist es für eine Frauenstimme stimmlagenbedingt kaum möglich, die 16. Harmonische zu erreichen. Daher begann ich sehr früh mit dem polyphonen Obertongesang, um dennoch die Melodien umsetzen zu können, die ich mir vorstellte.

Polyphoner Obertongesang ist Obertongesang mit gezielt wechselnden Grundtönen.

Für einen Oberton der gewünschten Melodie gibt es oft mehrere mögliche Grundtöne. Man kann diese dann entsprechend dem eigenen Stimmumfang und den physikalischen Möglichkeiten der Untertonreihe wählen, sowie bei der Auswahl eine mögliche harmonische oder kontrapunktische Funktion des Grundtones beachten.

beginning komm lieber mai oberton

Abbildung: der Beginn von „Sehnsucht nach dem Frühling“ nach der Volksliedbearbeitung von W.A. Mozart.

Ein künstlerischer Versuch der Anwendung von polyphonem Obertongesang ist meine relativ freie Bearbeitung des Chorals „O Antiqui Sancti“ von Hildegard von Bingen (1098 – 1179) aus dem liturgischen Drama „Ordo Virtutum“ (Spiel der Kräfte). Zu hören unter: „O Antiqui Sancti – polyphonic overtone singing“ (http://youtu.be/letfkSJ92Js).

„O Heilige des alten Bundes, was staunt ihr uns an? Das Wort Gottes leuchtet auf, ertönt, wird hell und klar in menschlicher Gestalt, und also funkeln wir, strahlen wir und blitzen in ihm, da wir Feuerstätten legen, da wir bauen und entzünden die Glieder seines schönen, hell scheinenden Leibes.“

Prinzipiell ist gregorianische Musik ja nicht für eine polyphone Interpretation gedacht, dennoch empfand ich den Einsatz der Obertöne in diesen Klängen und Melodien als sehr faszinierend. In meiner Bearbeitung wechselt die Melodie des Stücks zwischen Oberton- und Grundtonlinie, die jeweils andere Stimme hat eine Begleitfunktion.

Hildegard- Ordo Virtutum

Ordo Virtutum-O Antiqui in C für ICB

Ein anderes, neuartiges Projekt ist „Supersonus- the European Resonance Ensemble“ (www.supersonus.eu). Bestehend aus einer Kombination von Obertönen (Obertongesang, Maultrommel) und obertonreichen Instrumenten (Nyckelharpa, Kannel und Cembalo) sind wir auf der Suche nach einem Klang, der sowohl im archaisch- folkloristischen als auch in alten Musikstilen wie dem Barock seine Wurzeln findet.

 

Die Obertontechnik

Ein (Stimm)Klang besteht immer aus einem Grundton und den darin enthaltenen Obertönen. Die Klangfarbe wird bestimmt durch die Mischung der Obertöne, sprich die Lautstärkenverteilung der Obertöne im Spektrum. Auch Vokale unterscheiden sich voneinander nur durch eine unterschiedliche Lautheit der Obertöne im Stimmklang.

Diese physikalische Tatsache machen sich Obertonsänger in der Vokalobertontechnik zunutze und lernen, Vokale so stark auszuprägen, dass über eine feine Differenzierung in der Ansteuerung der Vokalfarben einzelne Obertöne aus dem Klang hervorgehoben werden und dadurch als zusätzlicher Ton gehört werden können.

 06 -u und i vokal

In der westlichen Vokaltechnik wird hauptsächlich der Vokalübergang zwischen /u/ und /i/ verwendet. Dies lässt sich über die Vokalübergänge in den Worten „oui“ und „you“ erreichen. (zu hören unter: http://youtu.be/HP0iotICL7k, ab Minute 0.45). Auch bei offenen Vokalen wie /a/, /ä/, usw. gibt es natürlich Obertöne, die hörbar gemacht werden können, hierbei klingen dann aber andere Obertöne immer auch relativ stark mit.

09- vokalobertöneskala

Abbildung: Der Vokalübergang „oui- you“, gesungen auf einem gleichbleibenden Grundton.

Die unterste Linie ist der Grundton, die zweite durchgehende Linie ist die 2. Harmonische, die sich kaum wegfiltern lässt. Das entstehende Dreieck sind die gefilterten Obertöne.

Die Vokaltechnik ist relativ einfach und in kurzer Zeit zu erlernen und daher auch für den Einsatz im Chor gut geeignet. Sie kann ganz im klassischen, weichen Gebrauch der Singstimme eingesetzt werden. In der Vokaltechnik lassen sich allerdings nicht so laute Obertöne singen wie in der Zungentechnik, die etwas komplexer zu erlernen ist. Für den polyphonen Obertongesang werden tendenziell die lauten Pfeifobertöne benötigt die erst bei Anwendung der Zungentechnik entstehen. Mehr Informationen zur Gesangstechnik sind hier (http://www.oberton.org/obertongesang/was-ist-obertongesang/) zu finden.

 

Der Nutzen der Obertöne für die Chorarbeit

Durch die Beschäftigung mit den Obertönen lernt man, Vokalfarben besser zu differenzieren sowie Resonanz optimal einzustellen.

Wenn man die Obertöne über die Vokale steuert, muss man in viel feineren Unterschieden in den Vokalfarben denken, als man es für gewöhnlich beim Singen oder Sprechen tut.

Je heller der Vokal, je höher der Oberton, desto kleiner werden die Unterschiede in der benötigten Einstellung der Vokalfarbe, da die Obertöne nach oben hin immer dichter werden.

Daher erlernt man ein viel feineres Wahrnehmungs- „Raster“ für Vokalfarben über das Heraushören desjenigen Obertons in einem Vokal, der am lautesten vertreten ist.

Durch diesen Lernprozess verbessert sich die Anpassungsfähigkeit der Chorsänger bzgl. Intonation und Klangfarbe untereinander, und somit auch die gesamte Intonation im Chor.

Auch wird ein Detonieren des Chores verhindert, wenn Obertöne in den Vokalen mitgeführt werden und die Vokale ausreichend hell gefärbt sind.

Sundberg: „(….) Intonationsprobleme bei einem Akkord auf dessen Vokal /u:/ könnten verschwinden, wenn in den ersten Proben stattdessen mit dem Vokal /a:/ oder einem anderen Vokal mit stärkeren Obertönen geübt wird“[2]

Die Klangwahrnehmung der einzelnen Menschen erweitert sich generell durch die Beschäftigung mit den Vokalobertönen, auch ohne die explizite Obertontechnik zu erlernen. Man beginnt, ganz automatisch, mit der Zeit in jedem Klang oder Geräusch (auch im Chorklang) die enthaltenen Obertöne herauszuhören.

Sehr hilfreich für die Intonation ist es, gemeinsame Teiltöne zwischen den Stimmen in einem Akkord zu ermitteln und die Vokalfarben entsprechend zu justieren. So können sich z. B. die Männerstimmen im selben Oberton treffen, obwohl sie unterschiedliche Grundtöne singen. Hierfür ist es notwendig, die Vokalfarbe anzupassen, d. h. die Stimmgruppen singen etwas unterschiedliche Vokalfarben. Je tiefer die Grundtöne sind, desto mehr Obertöne hat man zur Auswahl, und desto kleiner muss die Abweichung im Vokal sein.

Musikalisch kann man mit den Obertönen im Chor beispielsweise dadurch arbeiten, dass man Vokale im gesungenen Text so färben kann, dass ein Oberton im Klang lauter ist als andere.

Je nach Tonhöhe und Vokal gibt es manchmal mehrere Obertöne zur Auswahl, sodass der Vokal dennoch erkennbar bleibt, insbesondere in den Männerstimmen.

Hier kann man sich, beispielsweise für den Schlussakkord eines Stückes, entscheiden, ob man in den Vokalen Oktaven und Quinten in den Obertönen verstärkt haben möchte. Das klingt dann sehr konsonant und rund. Oder man kann auch eine Septime oder elfte Harmonische als Hauptresonanz wählen, das ergibt einen feinen klanglichen Unterschied.

Über gezielt eingestellte Obertöne in den Vokalen lässt sich somit die Reinheit und Wirkung von Akkorden im Chor unterstützen.

Sehr detaillierte Informationen und Übungen dazu sind auf der Website von Wolfgang Saus zu finden: http://www.oberton.org/chorphonetik/. Am Ende des Artikels gibt es die Möglichkeit zum kostenfreien download des Exposés mit Notenbeispielen; vorhanden in Deutsch und Englisch.

Ein Überblick über sämtliche notierte Kompositionen für Obertonchor und solo-Obertongesang ist hier zu finden: http://www.oberton.org/obertongesang/werke/.

 

Anna-Maria Hefele ist Obertonsängerin, Stimmkünstlerin und Sängerin. Sie spielt diverse Instrumente wie Nyckelharpa, Harfe, Mandoline und Schwegel. Seit 2005 beschäftigt sie sich intensiv und hauptsächlich mit dem Obertongesang, erste Kompositionen für Obertonstimme solo entstanden ab 2006. 2014 schloss sie ihr Studium der Elementaren Musik- und Tanzpädagogik mit Hauptfach Gesang am Carl Orff Institut des Mozarteum Salzburg mit dem Bachelor of Arts ab. Anna-Maria ist Obertonsolistin in verschiedenen Ensembles, wie bei  „Supersonus – the European Resonance Ensemble“ und im „Orchester der Kulturen“ unter der Leitung von Adrian Werum. Anna-Maria Hefele sang im Deutschen Jugendkammerchor unter der Leitung von Prof. Göstl, im Obertonchor München unter der Leitung von Matthias Privler und beim Europäischen Obertonchor unter der Leitung von Prof. Steffen Schreyer und Wolfgang Saus. E-Mail: info@am-oberton.de

 

[1] Ein Großteil der Hintergrundinformationen zum Obertongesang basiert auf Saus, Wolfgang: Oberton Singen. 4. Aufl. (2011) Battweiler: Traumzeit-Verlag, 2004 —  ISBN 3933825369

[2] siehe Sundberg, Die Wissenschaft von der Singstimme, 191.

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