Denis Rouger, Chorleiter, Lehrer und Komponist
Während einer Probe mit dem Universitätschor der Sorbonne in den 2000-er Jahren in Paris arbeiteten wir an einem Musikstück, das in Stil und Stimmung der berühmten Melodie von Duparcs Vertonung zu dem Baudelaire-Gedicht “L’Invitation au voyage” ähnelte. Ich fragte sodann die Mitglieder des Chores, wer von ihnen diese Melodie kenne. Unter den 90 Anwesenden gab es zwei Personen, die schüchtern die Hand hoben. Ein plötzliches Gefühl der Notwendigkeit veranlasste mich damals, ihnen dieses Meisterwerk näher zu bringen, und zwar nicht, indem ich es ihnen vorspielte, sondern indem ich es für Chor bearbeitete, damit sie es “von innen” heraus entdecken konnten.
Mit Blick auf die Vorteile dieser Entdeckung für die jungen Musikerinnen und Musiker beschloss ich damals mit der Anpassung geeigneter Melodien (heute sind es mehr als 50) fortzufahren, wobei ich jene ausschloss, die meiner Einschätzung nach durch die Masse des Chores in ihrer Natur beeinträchtigt werden können (Melodien, die eine große Transparenz erfordern, wie beispielsweise die “Chansons de Bilitis” von Debussy oder die Lieder, deren sehr persönliche Empfindungen Schaden nehmen würden).
Wenn man eine Komposition eines großen Komponisten vom Typ mélodie oder Lied für eine Solostimme und Klavier für einen 3-, 4-, oder 5-stimmigen Chor bearbeitet, stellen sich natürlich einige direkte Fragen:
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- Hat man das Recht, ein Meisterwerk zu verändern?
- Warum sollte man das machen, zu welchem Zweck?
- Ist es möglich, ein Werk so anzupassen, dass möglichst wenig verändert wird?
- Was widerfährt dem Text, ist doch die Sprache ein wesentlicher Bestandteil der Komposition?
Die Antwort auf die erste Frage ist a priori: nein.
Aber die Antwort auf die zweite Frage erlaubt vielleicht, in einigen Fällen dieses Verbot zu übergehen.
Meiner Meinung nach gibt es zwei einfache Gründe, eine Originalkomposition für eine andere Besetzung zu bearbeiten:
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- das Stück einem Publikum vorzustellen, das normalerweise keinen Zugang zu diesem hätte.
- den Reichtum eines Meisterwerkes durch eine andere Beleuchtung herauszustellen, das heißt, das Feld der klanglichen Möglichkeiten zu erweitern, um den Wert des Stück in anderer Weise erfahrbar zu machen. Es handelt sich dabei ganz sicher nicht um eine Verbesserung (!), sondern um einen anderen Blickwinkel, in der Weise, wie eine Statue in unterschiedlicher Beleuchtung oder auf verschiedenen Sockeln präsentiert werden kann.
Diese Bearbeitung setzt eine Arbeit voraus, die auf dem beständigen Respekt der Originalpartitur und ihres Sinnes gründet.
Um bejahend auf die dritte Frage zu antworten, ist es wichtig, Form und Inhalt zu trennen, indem man versucht, den Inhalt trotz der Veränderung der Form zu bewahren.
Eine gewisse Anzahl von Parametern beeinflusst den Prozess einer möglichst werkgetreuen Bearbeitung. Und um auf die vierte Frage zu antworten, so sind selbstverständlich der Text und die Sprache die allerersten Elemente, die, kombiniert mit anderen Parametern, die Treue zum oder die Entfernung vom Werk bestimmen.
Der Vergleich zwischen einer französischen mélodie (beispielsweise “Les Berceaux” von Gabriel Fauré auf einen Text von Sully-Prudhomme1) und einem deutschen Lied (zum Beispiel “Verborgenheit” von Hugo Wolf auf den großartigen Text von Mörike2), beide für einen 5-stimmigen Chor bearbeitet, kann uns helfen, die Herausforderungen einer solchen Arbeit zu erkennen und die Unterschiede, die sich aufgrund der Sprache ergeben.
Obwohl die beiden Stücke sehr unterschiedlich hinsichtlich ihrer Form und Inspiration sind, gibt es doch viele gemeinsame Parameter der Bearbeitung, die aber unterschiedlich gehandhabt werden.
Prosodie
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- Respekt vor dem Text, Gebrauch einer Prosodie, die nahe an derjenigen ist, die der Komponist für die ursprüngliche Melodie benutzt hat (keine Onomatopöien wie lalala, bam bam bam etc.)
- Respekt vor dem Gedichtsinn in jeder Stimme: wenn bestimmte Worte weggelassen oder wiederholt werden, muss der Sinn des Satzes vollständig bleiben, so dass der Interpret immer seinen Text “aufsagen” kann.
Klavier
Vollständige Übernahme des Originalpartie ohne irgendeine Veränderung
Harmonie
Dieser Punkt ist sehr heikel. Der absolute Respekt der vom Komponisten verwendeten Harmonie ist vorrangig, aber diese kann umständehalber leicht ausgeweitet werden um der Melodik willen oder weil die Polyphonie es “vorgibt”. Vorausgesetzt wird hierfür eine möglichst gründliche Kenntnis der Tonsprache des Komponisten, um Töne zu setzen, die er unter Umständen auch selbst hätte setzen können (damit sie zur “allgemeinen Stimmung” und strikt zum Stil des Komponisten passen).
Manchmal verstärken die Stimmen die Dissonanzen, wenn sie zum Beispiel Töne aushalten, die im Klavier nur kurz arpeggiert werden, und so kolorieren sie die schon vorhandene Harmonie und tragen noch eine besondere Emotion hinein: In “Les berceaux” von Fauré klingt so der Takt 31 dramatischer, weil das d der Altstimmen lange zusammen mit dem es der Soprane erklingt.
“Orchestration”
Durch die vielfältige, kontextabhängige Nutzung der stimmlichen Möglichkeiten von einer bis zu fünf Stimmen: Wahl einer dichten oder luftigen Polyphonie in Abhängigkeit von den durch die Harmonie ausgebreiteten Klängen und in Abhängigkeit vom Textsinn.
In dem Lied “Verborgenheit” von Wolf wird die erste Aussage vom Tutti präsentiert: die ausgesprochene Forderung: “Lass; o Welt!” wird unterstrichen durch die Vereinigung aller Stimmen. Der zweite, intimere Satz, welcher einen Schmerz und eine fast nicht greifbare Sehnsucht hervorruft, scheint besser ausschließlich dem Frauenchor angemessen zu sein, während wiederum der tiefe Akkord in Takt 20 und das folgende große, dramatische Crescendo in der polyphonischen Entfaltung ein noch größeres Ausmaß annehmen.
Nach diesem kräftigen forte erscheint die Wiederaufnahme des Themas, ausschließlich von den Frauen gesungen, zarter, zerbrechlicher, berührender. Das b der Tenöre in Takt 31, gehalten und vermindert, ermöglicht den sanften Wiedereintritt des tutti und beschwört die Universalität der menschlichen Sehnsucht herauf.
Die erste Aussage in der mélodie “Les berceaux” wird nur den Frauenstimmen anvertraut: sie sind es, die in dem Gedicht von Sully-Prudhomme mit ihren Kindern an Land zurückbleiben, während die Männer auf das Meer hinausfahren, ohne sichere Aussicht auf eine Rückkehr. Der heraufbeschworene Schmerz ist sicher der Schmerz der Frauen, und ihre Stimmen im Unisono erinnern nicht nur an ihren Schmerz, sondern auch an ihre Solidarität.
Dynamik
Gebrauch des Stimmsatzes zur dynamischen Unterstützung (z.B. die Nuance piano mit zwei Stimmen, forte mit fünf Stimmen). Im Lied von Wolf, in den Takten 20 bis 26, sowie in “Les berceaux” in den Takten 12 bis 19, wird das lange crescendo durch die dynamischen Möglichkeiten des tutti vergrößert im Vergleich zu einer Solostimme und verleiht der Aussage eine gesteigerte Dramatik.
Klang
Der Gebrauch des Stimmsatzes zur Unterstreichung des Textsinnes, z.B. fünf-stimmig im pianíssimo, um Wärme und Trost zu entfachen, fünf-stimmig im Unisono, um die dramatische Seite hervorzuheben, zwei Frauenstimmen, um Transparenz und Leichtigkeit herzustellen oder, wie bereits beschrieben, die Rede zu personalisieren:.
Es geht nicht darum, die Worte “überzubetonen”, sondern im Gegenteil darum, den ursprünglichen Text sich entfalten zu lassen durch die Intensivierung seines verborgenen Inhaltes.
Wahl der melodischen Linien und der Stimmregister
In Abhängigkeit von der Stimmung des Gedichtes und seiner Vertonung, immer so nah wie möglich an der Kunst des Komponisten. Das Register jeder Stimme ist sicherlich an die Originalmelodie gebunden, aber es ist immer möglich, diese Melodie auch einer tieferen Stimme zu übergeben, die von einer höheren Stimme begleitet wird (was bei unseren beiden Beispielen nicht der Fall ist).
Die Übernahme der Linien des Klaviers zur Stimmführung ist praktisch, aber diese Verdopplung ermöglicht es vor allem, bestimmte Worte zu unterstreichen: In “Verborgenheit” inspiriert sich die Stimme des Alt nur bei den Worten Herz und haben an der Achtellinie des Klaviers und unterstreicht in zurückhaltender Weise diese Worte. In Takt 15, 16 und 17 beschwört die Altstimme durch einen synkopierten Rhythmus Seufzer und Schluchzer und intensiviert so das dramatische Gefühl.
Diese Details müssen meiner Meinung nach zurückhaltend verwendet werden, fast unsichtbar (oder eher unhörbar) bleiben, aber sie haben Anteil an dem unbewussten Eindruck einer Stimmung des Gedichtes: Es geht nicht darum, die Worte “zu stark auszudrücken“, sondern im Gegenteil darum, den ursprünglichen Text durch die Intensivierung seines verborgenen Inhaltes sich entfalten zu lassen. Es handelt sich sicherlich um eine subjektive Wahl der Mittel, und eine andere Bearbeitung könnte die Parameter auf eine ganz andere Weise einsetzen. Wichtig erscheint es mir, diese Mittel nicht um ihrer selbst willen zu verwenden (beispielsweise weil ein crescendo immer einen guten Effekt macht), sondern als Träger von Gefühlen, die manchmal in Worte allein unübersetzbar bleiben. Die Verbindung von Worten in Gedichten erzeugt in uns einen Eindruck, der weit über die Bedeutung jedes einzelnen Wortes hinausgeht, und das genau macht die Magie der Sprache aus!
Die Sorgfalt, mit der alle diese Parameter eingesetzt werden, führt zu einem recht engen Spielraum, lässt aber auch Platz für Kreativität, die auch spannend und überraschend ist. Diese Kreativität setzt die Suche nach einem Akt des Schreibens voraus, der nahe an der Komposition ist, eine freie, persönliche Schreibweise, ohne Neutralität, die sich dem Akt der Interpretation annähert, unter größtem Respekt vor der künstlerischen Inspiration der Komponistin oder des Komponisten.
1Carus Verlag 9.243
2Carus Verlag 9.245
Denis Rouger ist für reichen Chorklang und feinfühlige Interpretationen bekannt. Seine musikalischen Erfahrungen sammelt er zunächst als Sohn einer Pariser Musikerfamilie und bei seinem Studium am Conservatoire National Supérieur de Musique de Paris. Als Dozent und Chorleiter unterrichtet und dirigiert er 20 Jahre lang an der Universität Paris-Sorbonne. Er ist 10 Jahre lang Chorleiter an der Kathedrale Notre-Dame de Paris sowie Ehrenkapellmeister der Kirche Madeleine. Die Leitung zahlreicher Ensembles führt ihn nach Deutschland, Italien, Holland, Kanada, in die Vereinigten Arabischen Emirate und in die Schweiz (Luzerner Festival). Er gibt Meisterkurse in Schweden, Bulgarien, Frankreich, Deutschland sowie in der Schweiz. Seit 2011 ist er Professor für Chordirigieren an der Staatlichen Hochschule für Musik Stuttgart. Der von ihm gegründete Kammerchor gewinnt 2014 den 1. Preis beim Internationalen Chorwettbewerb in Mosbach. 2016 gründet er den figure humaine kammerchor, mit dem er regelmäßig Konzerte bei namhaften Festivals gibt und mehrere CDs einspielt. Neben seiner Arbeit als Chorleiter komponiert er und bearbeitet französisches sowie deutsches Liedgut für Chor. Email: Denis.rouger@figurhumaine.de
Übersetzt aus dem Französischen von Manuela Meyer, Deutschland