Professionelles Chorsingen und Laienchorwesen in der Sowjetunion (1922-1991)

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Boris Tarakanov, Dirigent und Schriftsteller

Anton Fedorov, Komponist, Dirigent und Schriftsteller

 

Der Chor als Symbol Eines Starken Staates

Die sowjetische Führerschaft war sich sehr wohl bewusst, dass ein starkes Land ein singendes Land ist. Es genügt zu sagen, dass die Regierung sich in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges (Ostfront des 2. Weltkrieges) nicht nur auf den militärischen Aufbau konzentrierte, sondern auch auf die Entwicklung des professionellen Chorwesens. 1942, kurz nachdem die Deutschen unter großen Schwierigkeiten vor Moskau zurückgeschlagen worden waren, wurden auf Regierungsebene Beschlüsse gefasst, mehrere Chorgruppen wiederzubeleben – die Schaffung des State Academic Choir of Russian Song, des Russian Republican Cappella Choir und des Russian State Folk Choir. Die Deutschen bombardierten Stalingrad und Leningrad, und der Ural Russian Folk Choir, der Siberian Russian Folk Choir und andere Chöre erschienen. Das erste, was 1943 im verwüsteten Stalingrad wieder aufgebaut wurde, war kein Stahlwerk und kein Häuserblock…. Ein Cappella Chor wurde gegründet!

 

Concert of the State Academic Russian Choir of the USSR
Concert of the State Academic Russian Choir of the USSR

 

Viele der sowjetischen Entscheidungsträger fühlten die große Notwendigkeit, den ‚perfekten Chor‘ zu schaffen – denjenigen, der für die professionellen und Laiengruppen des Landes ein Vorbild sein würde. Merkwürdigerweise fiel die Wahl nicht auf einen bestehenden Chor einer großen Organisation, sondern auf die Vokalgruppe des Rundfunks der Union. Aufgabe der Gruppe war vor allem die Propaganda der sowjetischen Musik, die während dieser Jahre in vielerlei Genres aktiv produziert wurde – von Kantaten und Oratorien zu Liedern und Chorminiaturen. Einen herausragenden Platz im Repertoire erhielten jedoch russische und ausländische Chorklassiker, was dem Repertoire eine breite Dimension gab und diese Gruppe fast universal machte.

 

Sveshnikov State Academic Russian Choir

Man hält 1936 für das Gründungsdatum des Academic State Choir der UdSSR. Die Leitung des Chores wurde zwei herausragenden Musikern anvertraut – Alexander Sveshnikov (1890-1980) und Nikolai Danilin (1878-1945). Das erste Konzert des State Choir der UdSSR wurde am 26. Februar 1937 in Moskau gegeben, und war nach Zeugenberichten ein außergewöhnlicher Erfolg.

Man sagt, dass Sveshnikov nur einen Wunsch hatte – seinen Chor einzigartig zu machen. Und das gelang ihm. Der berühmte russische Chorleiter Claudiy Ptitza meinte: “wenn man andere Chöre als alten Wein in neuen Schläuchen ansah, so war der State Choir wie eine ganz neue Sorte Wein, mit einem sehr komplexen Aroma“. Der State Choir brachte viele Werke von Georgy Sviridov und Dimitri Schostakowitsch zur Uraufführung. Vissarion Shabalin und Rodion Shchedrin widmeten diesem Chor und Sveshnikov persönlich viele Werke.

 

State Academic Russian Choir, named after Sveshnikov.
Conductor: Boris Tevlin
State Academic Russian Choir, named after Sveshnikov. Conductor: Boris Tevlin

 

Nach Alexander Sveshnikovs Tod folgten ihm wunderbare Chorleiter an der Spitze dieses legendären russischen Chors: Igor Agafonnikov, Vladimir Minin, Eugene Tytyanko, Igor Raevskii und Boris Tevlin. Seit August 2012 wird der Chor von Tevlins Studenten Evgeny Volkov geleitet, der sich bemüht, Tevlins Stil zu bewahren und die Traditionen des Chors lebendig zu erhalten. Die Website des Chores: www.goschorus.ru

 

Yurlov Russian State Academic Choir

Wenn wir vom professionellen Chorgesang der sowjetischen Periode sprechen, dürfen wir den Republican State Academic Russian Choir nicht vergessen, der zeitweise als direkter Konkurrent des State Choirs betrachtet wurde, trotz der Tatsache, dass er Behörden der Republik und nicht der Union unterstellt war.

 

Capella Choir concert under the baton of Alexander Yurlov
Capella Choir concert under the baton of Alexander Yurlov

 

Der Chor hat seine Wurzeln an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in einem kleinen Chorensemble, das Ivan Yukhov (1871-1943) gründete. Er überwand die Umwälzungen des Jahrhundertanfangs erfolgreich und hatte während der sowjetischen Ära eine herausragende Stellung im kulturellen Leben des Landes. Ein denkwürdiges Ereignis im Leben dieses Kollektivs war 1958 die Berufung von Alexander Yurlov (1927-1973) in die Leitung. Als Absolvent des Moskauer Chorinstituts und Freund und Schüler von Sveshnikov packte Yurlov schnell die „heilige Kuh“ bei den Hörnern. Er benannte den Chor um in Republican Choir Cappella und hob sein Niveau in wenigen Monaten an. Unter Yurlovs Leitung wurde der Chor zu einem der führenden Chorkollektiven des Landes, der sich im Wettbewerb mit dem State Choir und dem Leningrad State Academic Choir von M.I. Glinka erfolgreich behauptete. Der Chor war häufig auf Tournee durch die Sowjetunion, und Laiengruppen nahmen an seinen Konzerten teil – die Verbindung des professionellen Chorsingens und des Laienchorwesens war eine mutige Innovation von Yurlev. Ein weiterer herausragender Dienst an dieser grundlegenden Form des Musizierens war die Rückkehr russischer geistlicher Musik des 16. bis 18. Jahrhunderts auf die Konzertbühne durch die Cappella. In den Jahren der atheistischen Propaganda war diese Initiative eine wirkliche bürgerliche Leistung Yurlovs.

Ein besonderer Bereich in Bezug auf die kreativen Aktivitäten der Cappella ist mit dem Namen des großen russischen Komponisten Georgy Sviridov verbunden. Yurlov leitete die Uraufführungen vieler Werke Sviridovs, unter anderen das chorsinfonische Gedicht „In memory of Sergei Yesenin”, “Oratorio Pathetique” und “Kursk Songs.

Nach Yurlovs Tod wurde die Cappella von seinen Schülern geleitet – Jury Ukhov (1937-2007) und Stanislav Gusev (1937-2012). Seit 2004 ist Gennady Dmitryak (geb. 1947), ein Student von Alexander Yurlov, Leiter der Cappella. Der Chor hat eine Webseite: www.choir-capella.ru

 

Capella of Russia, named after Yurlov.
Conductor: Gennady Dmitryak
Capella of Russia, named after Yurlov. Conductor: Gennady Dmitryak

 

Kammerchöre

In den 1970er Jahren trat etwas Neues in der sowjetischen Chorkunst auf – Kammerchöre. Die massenhafte Begeisterung für Kammerchöre wurde 1962 ausgelöst durch den Besuch der Sowjetunion durch den American Chamber Choir unter der Leitung von Robert Shaw. Der anschließende „Boom“ an Kammerchoraufführungen erstickte fast die Vorstellung vom „großen russischen Chor“. Außerdem wurde die Schaffung großer Gruppen bald wirtschaftlich problematisch. In ganz Russland begannen sich Chöre zu Kammerchören mit etwa 30 Sängerinnen und Sängern zu verkleinern.

Der erste professionelle Kammerchor, der in der Sowjetunion offiziell anerkannt wurde, war der 1972 von Vladimir Minin (geb. 1929) gegründete Moscow State Chamber Choir (www.choir.ru). Bis heute ist er einer der berühmtesten russischen Chöre im „Kammerformat“, sowohl zu Hause als auch im Ausland.

1980 wurde der State Chamber Choir of the Ministry of Culture der UdSSR gegründet, unter der Leitung von Valery Polyansky (geb. 1949), und 1981 der Chamber Choir of the Novosibirsk Regional Philharmonic, geleitet von Boris Pevzner (geb. 1940). Valery Polyanskys Kammerchor entwickelte sich allmählich zur State Symphony Cappella of Russia (www.gaskros.ru), und 1991 wurde Boris Pevzner Leiter des Moscow Choral Theatre (www.bpct.ru).

Bedeutende Beiträge zur Geschichte der Kammerchöre erfolgten durch den Chamber Choir of the Moscow Conservatory, gegründet von einem herausragenden Dirigenten und Pädagogen, Boris Tevlin (1931-2012). Zum Hauptgebiet dieses Chores wurde die Aufführung zeitgenössischer Musik.

 

Laienchöre

Die Chorkunst steht bei den Tätigkeiten von Laien an erster Stelle. Dies ist eine Behauptung, die nicht mehr bewiesen werden muss. 1936 war Moskau Austragungsort des vielbeschriebenen ersten Chorwettbewerbs der Gesamtunion, der öffentliche Aufmerksamkeit auf das Chorsingen als eine der demokratischsten Kunstformen auf sich zog. Einige der teilnehmenden Gruppen waren Laienchöre.

Als eine Anzahl von Laienchören spontan über das ganze Land entstanden, wurde die Idee des All-Russian Coordination Resource Center of Choral Performance geboren, und 1958 wurde die Gründung der All-Russian Choral Society vorgenommen. Alexander Sveshnikov wurde der erste Vorsitzende der All-Russian Choral Society (ACS) – er war zu jener Zeit Held der Sozialistischen Arbeit, Nationaler Künstler der UdSSR und Träger des Staatspreises der UdSSR. Hauptaufgaben des Verbandes waren die Förderung der Laienchöre auf jedem nur möglichen Weg und die Verbesserung der Sangeskultur des Volkes. Der ACS leistete das auf vorbildliche Weise. Ähnliche Musik- und Chorverbände wurden bald in anderen sowjetischen Republiken gegründet.

 

Alexander Sveshnikov
Alexander Sveshnikov

 

Nach den „Vorschriften über Laienchor und –musikgruppen“, anerkannt vom Kultusministerium der UdSSR, erhielten Laienchöre beträchtliche finanzielle Unterstützung für ihre Entwicklung. Insbesondere hatte jene Gruppe, die den nationalen Titel errungen hatte, das Recht Personal einzustellen, einschließlich eines künstlerischen Leiters, eines Chordirektors, eines Begleiters und sogar eines Choreographen. So wurde der Status des Laienchors auf Staatsebene anerkannt. Das trug zur Bildung von Laienchören in verschiedenen Berufs- und sozialen Gruppen bei. Zu dieser Zeit begannen sich Laiengruppen unter den russischen Chören zu entwickeln, zum Beispiel der Männerchor der Taxifahrer Moskaus „Green Light“, der sogar sein eigenes Logo hatte, oder der Chor der beschäftigten des Flughafens von Irkutsk, in dem Piloten und Flugbegleiter gemeinsam sangen.

Für die Entwicklung der Laienchorbewegung spielte eine sehr große Rolle, dass diese Gruppen häufig auftraten und Festivals des Laiensingens auf allen Ebenen durchführten; Distrikt, Stadt, Region, Zone, Nation und Gesamtunion.

Die Zahl der Laienchöre nahm im tempo allegro assai zu und wuchs bald so sehr, dass es zu einem ernsthaften Personalmangel kam. Um diese Situation so schnell wie möglich zu verbessern, wurden auf Initiative der All-Russian Choral Society neue Fakultäten und Abteilungen für Musik und Pädagogik eröffnet, Schnellkurse in Musikschulen eingerichtet und sogar Strukturen für Fernunterricht an der Kunsthochschule des Volkes entwickelt. In den 1960er Jahren entwickelten sich in der UdSSR Institutionen der Höheren Bildung, wie es keine vergleichbaren auf der Welt gab – Kulturinstitutionen. Sie boten Ausbildung für Manager von Laiengruppen, einschließlich der Chöre.

Laienchöre in Bildungseinrichtungen sind ein getrennter und selbstständiger Zweig der Chorkunst. Einige der Studentenchöre, die eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Chortradition spielten: als ältester Universitätslaienchor wird der Academic Choir of the Moscow State University angesehen, benannt nach M. Lomonosov (www.choir.msu.ru), gegründet in den frühen 1870ern. Diese wunderbare Gruppe wird heute als Laienchor auf professionellem Niveau betrachtet und wird geleitet von einem talentierten Musiker, Mirza Askerov. Andere russische Studentenchöre haben auch hohes Niveau und eine reiche Geschichte: der Moscow State Technical University Gaudeamus Chamber Choir, benannt nach N.E. Bauman (www.gaudeamus.bmstu.ru) unter der Leitung von Vladimir Zhivov; der Male Choir of the National Research Nuclear University (www.choirmephi.ru), der jetzt geleitet wird von Nadezhda Malyavina, und der Academic Great Chorus of the Russian State Humanitarian University (www.hor.tarakanov.net), dessen künstlerischer Leiter Boris Tarakanov ist.

 

An der Jahrhundertwende…

Das kreative Leben russischer Chöre in den 1990ern war zugleich eine Rückwärtswende und eine experimentelle Projektion in die Zukunft. Auf der einen Seite wandten sich die Chöre den „Wurzeln“ der nationalen Sangeskultur zu –der russischen Kirchenmusik. Auf der anderen Seite begannen sie, die Stilvielfalt der zeitgenössischen Chormusik zu entdecken. Diese Unterschiedlichkeit des ästhetischen Zugangs, der Traditionen und Genres der Chormusik verlangte von den Leitern der Gruppen eine Konzeption der Bildung des kreativen Profils des Chors, die sicherstellte, dass eine gemeinsame Philosophie und ein einzigartiger Mikrokosmos alle Sängerinnen und Sänger geistig vereint. Dies hatte eine solche stärkende Kraft für das kreative Leben der Gruppen, dass sie nun in der Lage sind, einzigartige Projekte in führenden Konzertsälen aufzuführen, mit führenden Orchestern und Opernstars aus aller Welt, bei den jährlichen Ostergottesdiensten in verschiedenen Ländern der Welt und in Chorlagern, ebenfalls in der ganzen Welt.

Seit den 1990ern sind überall in Russland Kirchenchöre entstanden. Mit dem Segen der geistlichen der Russischen Orthodoxen Kirche leisten viele nicht nur innerhalb der Andachtsorte Missionsarbeit, sondern auch darüber hinaus. Messen, Vespern, Gebetsstunden, Hochzeiten und Beerdigungen bleiben natürlich, aber dem können Aufführungen in Konzertsälen mit Programmen, die russische Volkslieder, Chorklassiker und musikalische Projekte einzelner Urheber umfassen, hinzu gefügt werden. Folgende Gruppen wurden zu solch universellen Kirchenchören: der Moscow Synodal Choir, Vorsänger Alex Puzakov (www.mossinodhor.ru); Sretensky Monastery Male Choir, Vorsänger Nikon Zhila (www.bestchoir.ru); Festive Male Choir of St. Daniel Monastery, Vorsänger George Safonov (www.danilovchoir.ru); Choir of the Temple of Christ the Savior, Vorsänger Ilya Tolkachov (www.xxc.ru/ru/choir) und viele andere.

 

Moscow Sretensky Monastery Choir
Moscow Sretensky Monastery Choir

 

Man sollte nicht überrascht sein über die professionellen Fähigkeiten dieser Gruppen, da viele Absolventen der Dirigier- und Gesangsabteilungen der Konservatorien und anderer höchster musikalischer Ausbildungsstätten nun in Kirchenchören arbeiten. Die Russische Orthodoxe Kirche ist bis heute der größte Arbeitgeber für Berufschorsänger und – dirigenten.

 

 

 

Boris Igorevich Tarakanov

Boris Igorevich Tarakanov (geb. 2.02.1968) ist Chorleiter, Schriftsteller, Mitglied der russischen Journalistenunion und Professor. Vor 2012 war er ein führender Experte an der Zentralbank der Russischen Föderation. Seit 2004 ist er künstlerischer Leiter und Chefdirigent des Academic Great Chorus of the Russian State Humanitarian University (RSUH). Er hat das größte kostenlose Online-Notenarchiv geschaffen. Seit 2009 ist er Präsident der vereinten Chorbewegung Chorus Inside. Er ist auch Autor von Science-Fiction Romanen. “The Ring of Time” und “Wheel in the Deserted Park”, sind geschrieben in Zusammenarbeit mit Anton Fedorov. Email: boris@tarakanov.net

 

Anton Vyacheslavovich Fedorov

Anton Vyacheslavovich Fedorov (geb. 8.11.1974) ist Komponist, Schriftsteller und Preisträger Internationaler Wettbewerbe. Er ist Chefdirigent des Academic Great Chorus of the Russian State Humanitarian University. 2004 schrieb er in Zusammenarbeit mit Boris Tarakanov einen musikalischen Fantasyroman “Wheel in the Deserted Park”. Email: hcab@ya.ru

 

 

Übersetzt aus dem Englischen von Lore Auerbach, Deutschland

 

Redigiert von Anna Shirley, Vereinigtes Königreich

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