Interview mit Frieder Bernius, Leiter des Kammerchor Stuttgart, Deutschland
Lieber Herr Bernius, neulich wurde Ihre neuste CD „Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ von Joseph Haydn beim Carus Label veröffentlicht. Diese Aufnahme entstand im März 2021 unter sehr strengen hygienischen Bedingungen. Welche waren denn damals die Anforderungen?
Die Bedingungen waren: Mindestabstände von 1,5 Metern zwischen allen Mitwirkenden, aber wir durften ohne Maske singen und spielen.
Was für eine räumliche Gestaltung ist möglich, wenn unter diesen Bedingungen ein Orchester und ein Chor, dazu noch 4 Solisten gemeinsam musizieren sollen? Ist überhaupt ein gemeinsames Musizieren möglich, wenn die entferntesten Mitstreiter über 50 Meter voneinander sitzen und der Dirigent immer jemandem „den Rücken zeigt“, weil die Musiker in einem Winkel weit über 180 Grad platziert sind?
Das wichtigste künstlerische Ziel eines gemeinsamen Projekts von Chor, Solisten und Orchester ist, etwas gemeinsam zu erarbeiten und dabei aufeinander hören zu können. Als Dirigent, der das gestisch zusammenhalten und in der Probe verbal vermitteln soll, muss ich dabei von allen gesehen werden können. Genau diese Erwartungen sind durch die Bedingungen sehr erschwert worden. Durch die eingeschränkten Möglichkeiten des aufeinander Hörens konnten die dirigentischen Hinweise nicht wie sonst überprüft und verfeinert werden. Und um von möglichst vielen gesehen zu werden, musste ich an der Seite stehen (siehe Foto) und konnte dadurch nicht die gewohnten Hörabstände zu den Ausführenden haben. Meine Sicht von der Seite auf den Konzertmeister hat bedeutet, dass Teile des Orchesters zu mir im Rücken saßen und dadurch lediglich den Konzertmeister sehen konnten. Ausschließlich in den instrumentalen Introduktionen (also ohne Vokalsolisten und Chor) konnte ich meine übliche Positionierung vor dem Orchester einnehmen.
Welche (weiteren) Herausforderungen haben sich bei dieser Aufnahme ergeben?
Durch diese Bedingungen ist der Tonmeister noch verantwortlicher für eine gelungene Aufnahme gewesen als sonst. Es ist für mich als Dirigenten immer wichtig, musikalisch vorauszudenken und gleichzeitig das Ergebnis nachhören zu können. Dieses gedankliche Nachhören wurde hier erschwert. Eine zeitliche Erschwernis gab es außerdem dadurch, dass öfter als sonst die Aufnahmeergebnisse im Studio überprüft werden mussten.
Gab es auch bei dieser außergewöhnlichen Positionierung der Musiker positive Punkte im Vergleich zu einer normalen Aufstellung?
Was ist die optimale Aufstellung bei einer Chor-, Solisten- und Orchesteraufnahme? In den 80er Jahren haben wir daran experimentiert, z.B. durch eine „en face“-Aufstellung, in der sich Chor und Orchester gegenüberstehen, der Dirigent aber, wie bei den Coronabedingungen, nur an der Seite stehen kann. Das ermöglicht, die Mikrofone sehr gut auf die einzelnen Klangkörper zu fokussieren, hat aber die erwähnten Nachteile für den Dirigenten. Die normale Praxis, dass der Chor hinter dem Orchester steht, hat den Nachteil, dass die Mikrofone die Klangkörper nicht getrennt aufnehmen können und dadurch in der Mischung ihren Klang nicht so isolieren können, dass die Balance zwischen ihnen verändert werden kann.
Wie verlief die Postproduktion?
Entsprechend den erschwerten Bedingungen: komplizierter und länger als üblich, bedingt durch einige Überraschungen beim Abhören der Takes und durch einen höheren technischen Aufwand für die Mischung aller Klangkörper, die wegen der ungewohnten Abstände auf den Bändern anders zu hören waren als im Saal.
Wenn Sie heute, grob sechs Monate nach Finalisieren des Masters, die Aufnahme noch einmal hören, hören Sie, sozusagen, die unübliche Aufstellung?
Wenn das der Fall wäre, hätte wir eine Aufnahme unter den erschwerten Bedingungen nie riskieren dürfen, denn niemand wird in 20, 30 Jahren noch wissen, unter welch ungewöhnlichen Voraussetzungen sie zustande gekommen ist.
Gut aufeinander hören zu können, ist die wichtigste Voraussetzung gemeinsamen Musizierens. Und Aufnahmen machen zu können und dabei wichtige Erfahrungen zu gewinnen, ist für mich ein wichtiges Bindeglied zwischen Proben und Konzerten. Erschwerte Bedingungen dafür werden immer zu weniger erfreulichen Ergebnissen führen, was lediglich durch ein übergroßes Maß an Engagement aller Beteiligten ausgeglichen werden kann!
Werden Sie manche Merkmale dieser außergewöhnlichen Platzierung für zukünftige Aufnahmen wiederholen?
Nein. Hoffen wir, nie wieder unter diesen Bedingungen aufnehmen zu müssen!
Joseph Haydn
Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze
Kammerchor Stuttgart
Hofkapelle Stuttgart
Anna-Lena Elbert, Sopran
Sophie Harmsen, Alt
Florian Sievers, Tenor
Sebastian Noack, Bass
Frieder Bernius
Carus 83.520