Başak Doğan, Dirigentin, Türkei
Mit diesem Artikel möchte ich eintreten für die Bedeutung von rhythmischer Chormusik (Jazz/Pop) und die Notwendigkeit, als Gruppe frei zu singen und zu gestalten, und diese Aspekte beleuchten. Mit ihrer einzigartigen Lage am Übergang zwischen Orient und Okzident kann die Türkei auf ein großartiges musikalisches Erbe zurückblicken, das aus einem breit gefächerten kulturellen Hintergrund stammt – eine vielschichtige, einzigartige Fülle, bei der jede Schicht die andere nährt. Doch trotz dieses enormen kulturellen Geschenks wird das gemeinsame Singen nur wenig praktiziert.
Mehrstimmiger Chorgesang hat sich seit der Gründung der Republik herausgebildet ( in diesem Jahr wird er hundert Jahre alt), und dank der bemerkenswerten und bedeutenden Anstrengungen von Musikern und Wissenschaftlern hat er vor allem in den letzten 20 Jahren eine große Entwicklung genommen. Die überwiegende Mehrheit der Chöre hat allerdings klassische und volkstümliche Chormusik in ihrem Repertoire, und während einige von ihnen von Zeit zu Zeit auch Chorsätze aus dem Bereich Jazz/Pop singen, gibt es nur sehr wenige Jazz/Pop-Chöre, die ihr Repertoire bewusst aus rhythmischer Musik zusammenstellen. Wenn man hier in der Türkei an Chöre denkt, kommt einem als erstes ein klassisch türkisch geprägter Chor in den Sinn, in dem alle Sängerinnen und Sänger gemeinsam eine Melodie singen und von traditionellen Instrumenten begleitet werden. Die klassische türkische Musik ist linear, homophon, mikrotonal und basiert auf einem speziellen Tonleitersystem namens Makam. Die modernere, florierende Chormusik der letzten hundert Jahre ist mehrstimmig und orientiert sich vor allem an der europäischen klassischen Musik und Volksmusik. Da mehrstimmiger Chorgesang für die Menschen in der Türkei ziemlich neu ist, vor allem für Menschen, die keine Musiker sind, ist es wirklich faszinierend, dass die heranwachsende Generation von Chören diese Wahrnehmung nun nachhaltig verändert.
Mein eigener Zugang zum Chorgesang und auch mein musikalisches Wissen und Verständnis haben sich grundlegend verändert, nachdem ich an der Königlichen Musikakademie in Dänemark im einzigartigen RAMA Vocal Center einen Master in Rhythmischer Chorleitung absolviert hatte. Durch das Erleben und Erlernen von Rhythmus und Harmonie auf ganz neue Art und Weise mit Hilfe der großartigen Improvisationsmethode Vocal Painting (eine umfangreiche Sammlung interaktiver Handzeichen, entwickelt von Jim Daus Hjernøe) eröffnete sich mir eine neue Ebene der musikalischen Realität. Kreative Freiheit kann in einem Chor, selbst in einem Laienchor, einhergehen mit musikalischer Präzision, und die Ergebnisse sind immer wieder verblüffend – davon brauchen wir hier in der türkischen Chorszene und eigentlich überall auf der Welt unbedingt mehr. Der spielerische Charakter von Jazz/Pop und dessen Verwurzelung in der Improvisationskunst bedeuten, dass sich das Potenzial der Chorsängerinnen und -sänger schnell und einfach freisetzen und zugleich die Vielfalt des Beitrags jedes Einzelnen hervorheben lässt. Durch das gemeinsame Singen von synkopischen und harmonisch anspruchsvollen melodischen Linien in der Gruppe gewinnen die Sängerinnen und Sänger ein tieferes Verständnis für Zeit und Tonalität in der Musik. Die genaue Übereinstimmung im Rhythmus, eine einheitliche Klangfarbe, um eine ausgewogene Mischung und eine gute Intonation aufrechtzuerhalten, sowie das gemeinsame Beginnen und Beenden jeder Note sind die Kernbestandteile für brillante und groovige Musik in einem Jazz-/Popchor. Das Erlernen dieser Hauptmerkmale rhythmischer Musik ist sicherlich für jede Art von Musikgenre von großem Nutzen. Wenn ich zum Beispiel mit meinem Chor Chromas an verschiedenen Klangfarben in einem Pop-Stück wie You’re All I Need To Get By (The Swingles) arbeite, dann wird auch die klangliche Qualität eines ganz anderen Genre-Stücks wie Cloudburst von Whitacre besser. Meiner Meinung nach trägt das, was das rhythmische Chorrepertoire besser macht, auch unmittelbar dazu bei, dass das kollektive Singen insgesamt besser wird – ob es nun zeitgenössisch, klassisch oder folkloristisch ist.
Zudem lassen sich mit Hilfe von Vocal Painting in einem chorischen Umfeld immer wieder die Grenzen des Gesangs und des Selbstausdrucks verschieben, was stets zu musikalischen Höchstleistungen führt. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Schaffung eines einladenden, offenen Raums, in dem jede und jeder Einzelne ihre bzw. seine authentische Wahrheit zum Ausdruck bringen kann, von grundlegender Bedeutung ist, um gute Musik zu machen. Durch die pädagogische Herangehensweise von Vocal Painting vergeht die Zeit beim Singen von improvisierten und spontanen Kompositionen wie im Flug, und sowohl die einzelnen Sängerinnen und Sänger als auch der Chor entwickeln ihre Musikalität weiter. Es ist einfacher, an einem Musikstück zu arbeiten, wenn man sich im Flow befindet, wenn man im Hier und Jetzt ist und auf die eigene musikalische Wahrnehmung achtet. In einer offenen und spielerischen Umgebung erlebt jede Sängerin und jeder Sänger den Prozess des Musizierens so echt und real wie möglich.
Auch wenn ich wirklich froh bin, dass es in der Türkei immer mehr Jazzchöre und Vokalensembles gibt, so ist doch der dringende und große Bedarf an mehr Chören in diesen neuen Genres offensichtlich. In der Türkei ist die vokale Popmusik bereits seit Jahrzehnten bekannt, und es gibt herausragende Persönlichkeiten, die in Harmonie und Groove singen – warum also nicht diese Musik in Chören einbringen und zu einem spannenden und innovativen Angebot für junge Sängerinnen und Sänger machen? Ich kann mir vorstellen, dass jeden Tag in jeder Stadt mehr Chöre gegründet werden, dass mehr Menschen Jazz und Pop a capella singen und als singende Gemeinschaft frei gestalten. Junge Menschen interessieren sich vor allem für R&B-, Soul-, Rock- und Pop-Vokalmusik – ein Chor, der sich mit dieser Musik beschäftigt, würde sie anziehen und ihnen einen Chorraum bieten, in dem sie sich zugehörig fühlen. Die Gründung von Jazz-/Pop-Chören speziell für junge Menschen hätte einen großen Einfluss auf das zukünftige Wachstum der Chorszene.
Başak Doğan ist eine innovative Dirigentin, deren einzigartiger Stil auf der ganzen Welt für Aufsehen sorgt. Nach ihrem Master-Abschluss in Musikphilosophie an der Boğaziçi-Universität in Istanbul erwarb sie einen zweiten Master-Abschluss in Rhythmischer Chorleitung an der Royal Academy of Music, Dänemark, mit dem Thema „Intuitives Dirigieren“. Als vielseitige Dirigentin tritt sie bei zahlreichen Chorveranstaltungen auf, leitet Sängerinnen und Sänger aller Altersgruppen und hat mit ihrem Chor Chromas internationale Anerkennung erlangt. Başak, die vor allem dafür bekannt ist, dass sie verschiedene Stile miteinander verbindet, hat eine unverwechselbare Dirigiermethode entwickelt. Die Begeisterung, mit der sie ihren eigenen kulturellen Hintergrund in die Welt der Chöre einbringt, hat sich auf die rhythmische Chormusik ausgewirkt. Im Mittelpunkt ihres Stils steht das „Vocal Painting“: Sie lässt den Chor „music of the moment“ kreieren. Ihre jüngste Initiative „Vokal Akademi“ hat sich zum Zentrum für alle Sängerinnen und Sänger entwickelt, die sich gesanglich weiterentwickeln und ihre musikalische Karriere vorantreiben wollen.
Übersetzt aus dem Englischen von Petra Baum, Deutschland