Die Chormusik von Domenico Bartolucci
von Aurelio Porfiri, Chordirigent, Organist und Lehrer
Heutzutage klingt das Wort “Tradition” für viele Menschen ungewohnt. Von manchen wird es hoch geachtet, von anderen ebenso intensiv verachtet. Und wenn wir von der Tradition in Bezug auf die Musik sprechen, dann dürfen wir nicht die Entwicklung vergessen, die die Sprache der Musik im vergangenen Jahrhundert durchgemacht hat, eine Entwicklung, die in gewisser Weise gegen die Tradition ging. Aber dennoch gibt es Stimmen, selbst im verquälten vorigen Jahrhundert, mit der Kraft, die Rolle der Tradition zu bestätigen und sich für die musikalische Tradition einzusetzen. Eine dieser Stimmen ist die von Domenico Bartolucci, katholischem Priester, Komponisten und Dirigenten, eine wegweisende Gestalt in der Welt der Kirchenmusik nicht nur wegen seiner Musik, sondern auch um seiner starken Persönlichkeit willen. Seine Musik, die es verdient, viel bekannter zu sein, wird in der ganzen Welt gesungen, und trotz seines beträchtlichen Alters ist er immer noch in der musikalischen Welt aktiv. Tradition ist für ihn kein Wort, dessen man sich schämen muss, sondern es bedeutet Reichtum. Für Menschen wie ihn, die ihr Leben als katholische Kirchenmusiker verbringen, bedeutet Tradition gregorianischen Choral und die Polyphonie der Renaissance, die zwei Repertoires, die die Kirche immer als beispielhaft betrachtet hat für das, was liturgische Musik sein sollte. Ich studierte mehrere Jahre lang bei ihm am päpstlichen Institut für geistliche Musik, und selbst heute habe ich immer noch das Vergnügen, ihn zu besuchen und mit ihm über diese und andere Themen zu sprechen. Ich erinnere mich daran, wie er darauf besteht, dieses Repertoire zu beschützen: er setzt sich nie dafür ein, dass wir es nur dabei lassen sollen (wie manche Menschen fälschlicherweise behaupten), aber er bestätigt, dass dies Modell auch ein ausgezeichnetes Vorbild für neue Kompositionen ist. Und er hat in seiner eigenen Musik gezeigt, wie wahr das ist. Es gibt Menschen, die behaupten, dass seine Musik nicht “modern” ist. Das weiter zu verfolgen würde hier zu weit führen. Aber wenn man seine Musik analysiert, kann man überrascht sein: die Dissonanzen und modernen Akkorde sind in der Tat vorhanden, aber die weise Behandlung dieser Kunstmittel verhindert, dass sie beunruhigen. Als ich ihn darauf hinwies, antwortete er, dass der Grund dafür die Tatsache ist, dass seine musikalische Sprache von einer Logik beherrscht wird, so dass selbst Klänge, die nicht konsonant sind, die Zuhörer nicht zusammenzucken lassen. Er ist Anhänger der römischen Schule der Chormusik, und so sollten wir uns erst einmal mit dieser befassen.
Die “Scuola Romana”
Der italienische Ausdruck “Scuola romana”, was “römische Schule” bedeutet, kann auf verschiedene künstlerische Disziplinen angewandt werden, so die römische Schule der Malerei oder die römische Schule der Architektur. Es gibt auch eine römische Schule der Musik oder, genauer gesagt, eine römische Schule der liturgischen Musik, die ihre Blüte während der Renaissance erlebte. In Rom ist die Renaissance besonders wichtig: die Anwesenheit des Papstes und des päpstlichen Hofes zog in der Tat die besten Künstler der ganzen katholischen Welt an. Aber wo finden wir den Ursprung dieser römischen Schule? Wir müssen zurück ins 14. Jahrhundert gehen, als die Päpste in Avignon residierten. Dort begannen die Sänger, die ersten polyphonen Linien um die gregorianischen Choräle herum zu weben. Es ist recht lustig, wenn man sich an die Bulle von Papst Johannes XXII erinnert, “Docta Sanctorum Patrum” von 1324, in der er seine niederländischen Sänger wegen ihrer ausufernden Experimente mit der Polyphonie rügte. Aber, da wir bei der Wahrheit bleiben wollen, so müssen wir zugestehen, dass er die Polyphonie selbst nie verdammte. Es dauerte noch Jahrzehnte, bis solche Experimente ermutigt wurden. Nun erreichte die niederländische Kunst des Kontrapunktes ungeahnte technische Höhepunkte, allerdings sehr häufig als reine Schau der Virtuosität. Diese großen niederländischen Sänger zogen mit dem Papst nach Rom und kamen mit den großen italienischen Musikern in Berührung, die ebenfalls Mitglieder des päpstlichen Chores wurden, was viele der zunehmenden Italienisierung der päpstlichen Kurie zu verdanken hatten. Die niederländische Kunst der Polyphonie reagierte auf die für Mittelmeerländer typische Sangbarkeit und erreichte ihre Hochblüte im 16. Jahrhundert. Das ist, was wir “Scuola Romana” nennen.
Die Charakteristika dieser Schule sind die folgenden:
- ausgesprochen gesangliche Linien
- jedem Sänger des Chores wurde ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit zuteil – die Stimmen waren nur einzeln oder doppelt besetzt
- dem Text wurde viel Aufmerksamkeit gewidmet
- man hielt sich strikt an die liturgischen Riten (die Musik wurde mit höchstem Respekt für den geistlichen Inhalt und für die Bedürfnisse eines jeden Augenblicks der Liturgie geschrieben)
- großer Respekt für die Tradition
Die beiden Repertoires, die alle diese Bedingungen erfüllen, sind der gregorianische Choral und die Polyphonie der Renaissance. Wir sollten uns sehr wohl daran erinnern, dass die westliche Musik der musikalischen Praxis der katholischen Kirche ungeheuer viel zu verdanken hat, eine Praxis, aus der eine reiche Vielfalt musikalischer Formen hervorging, sowohl geistliche als auch weltliche, eine wahre Zierde unserer Zivilisation.
Domenico Bartolucci
Domenico Bartolucci wurde 1917 in Borgo San Lorenzo geboren, einer kleinen Stadt in der Nähe von Florenz. Wenn wir die rechte historische Perspektive gewinnen wollen, so sollten wir ein paar Gedanken an die wichtigsten Ereignisse dieses Jahres wenden. Der erste Weltkrieg tobte noch; am 6. April erklärten die USA Deutschland den Krieg. Gegen Ende des Jahres brach die Oktoberrevolution in Russland aus. Genau eine Woche nach der Geburt von Bartolucci fand in einem kleinen portugiesischen Dorf, Fatima, eine der wichtigsten Visionen in der Kirchengeschichte statt. Damals war Italien noch weitgehend von der Landwirtschaft beherrscht, und das traf auch auf Bartoluccis Heimatstadt zu. Seine Mutter war Bäuerin und sein Vater Arbeiter, der in der Kirche sang, aber nicht als Berufssänger. Das Musikleben war selbst in kleinen Städten sehr reichhaltig; es gab Chöre, Musikgruppen, Operngruppen und natürlich eine ganze Reiche musikalischer Aktivitäten, die mit der katholischen Liturgie verbunden waren. In unseren Gesprächen erinnert er sich immer an diese Zeiten, als Italien noch ländlich war und das Leben – wie er immer wieder erwähnt – einfacher und schöner war. Er sagt, dass die Music “in der Luft lag”, man konnte die Musik überall einatmet. Bartolucci erfuhr schon in sehr jungen Jahren eine doppelte Berufung: als Musiker und als Priester. Nach Abschluss seiner Grundschulzeit trat Bartolucci ins [Priester-]Seminar in Florenz ein, wo er sich auch der Musik widmete, indem er als Chorknabe im Seminarchor sang. Er begann das Studium der Musik bei dem Chorleiter, Francesco Bagnoli. Im Seminar das Klavierspiel zu erlernen war gar nicht einfach; der junge Bartolucci machte sich am Ende eine Tastatur aus Pappe, damit er üben konnte. Im Alter von zwölf Jahren komponierte er eine Messe und ein zweistimmiges Ave Verum. Vier Jahre später schrieb er eine weitere Messe, nunmehr mit besserer Technik und sehr originellen musikalischen Themen. Diese Messe, ursprünglich für vier gemischte Stimmen, wurde viele Jahre später revidiert und ein eine Messe umgearbeitet für fünf gemischte Stimmen, bereichert durch ein Orchester. Dies ist ein von Bartoluccis eindrucksvollsten Kompositionen, als Missa Assumptionis bekannt. Schon vor seinem 20. Geburtstag hatte er zwei seiner wichtigsten symphonischen Werke und Chorwerke geschrieben: die rustikale Sinfonie und das Oratorium La Tempesta sul Lago [Der Sturm auf dem See]. Im Jahre 1939, im Alter von 22 Jahren, erhielt er vom Konservatorium zu Florenz sein Diplom für Komposition und Chordirigieren. Dies Diplom zeigt uns eindrucksvoll die besonderen Gaben des jungen Meisters: er stellte die Prüfer in allen Fächern, Haupt- wie Nebenfächern, in nur zwei Examensperioden zwischen Juli und Oktober desselben Jahres zufrieden, etwas, wozu die meisten Studenten zehn Jahre brauchen würden. Im selben Jahr wurde er zum Priester geweiht. Ende 1942 wurde er für weitere Studien nach Rom geschickt, insbesondere für das Studium der römischen Chortradition. In Rom wurde er stellvertretender Chorleiter der Basilika St Johann im Lateran, der Kathedrale von Rom. Aber der zweite Weltkrieg zwang ihn zur Rückkehr in seine Heimatstadt. Während dieser politisch dramatischen Zeit schrieb er weitere wichtige Chorwerke mit Orchester, darunter das Oratorium Die Passion und ein Klavierkonzert in E. 1945, bei Kriegsende, kehrte er nach Rom zurück, wo er unter Anleitung des berühmten italienischen Komponisten Ildebrando Pizzetti ein Graduiertenexamen in Komposition und Chorleitung von der Akademie St. Cäcilia absolvierte. Darüber hinaus verlieh ihm das päpstliche Institut für geistliche Musik in Rom ein Kompositionsdiplom. 1947 wurde er Gemeindepfarrer in einer kleinen Stadt in der Nähe von Florenz, aber er widmete sich weiterhin auch dem Komponieren. Das geistliche Gedicht Baptisma für Solisten, Frauenchor und Orchester gehört in diese Periode. Im selben Jahr, nämlich 1947, wurde er nach Rom berufen, als Chorleiter an der Basilika St. Maria Maggiore (eine Stelle, die er viele Jahrzehnte lang innehaben sollte) und auch als Professor der Komposition und polyphonen Musik am päpstlichen Institut für geistliche Musik, wo er bis 1997 lehrte. 1952 wurde er stellvertretender Dirigent des Chors der Sixtinischen Kapelle – weil der Hauptdirigent Lorenzo Perosi schon lange krank war. Lorenzo Perosi beherrschte die italienische geistliche Musik in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Als sehr begabter Musiker stand Perosi unter dem starken Einfluss der Spätromantik, was ihn in Konflikt mit den Verteidigern der rein römischen Tradition brachte. Seine Musik ist immer noch sehr beliebt, und er ist das Thema diverser Bücher und vieler Forschungsarbeit. Er war 59 Jahre lang Dirigent des Chors der Sixtinischen Kapelle. Nach Perosis Tod ernannte Papst Pius XII Bertolucci zum Ständigen Maestro des Chors der Sixtinischen Kapelle, eine Stelle, die er innehatte, bis er 1997 um seinen Ruhestand einkam. [Bartolucci setzte eine Reform im Chor durch. Er stellte einen Etat sicher, was in erster Linie Papst Johannes XXIII. zu verdanken war. Er führte neue Stimmen ein und ersetzte die falsettierenden Männer durch Knabenstimmen (die als “voci bianche” – “weiße Stimmen” bekannt waren) für die obersten Stimmen. Es war ein sehr ehrgeiziges Unternehmen. 1965 wurde er Ehrenmitglied der Akademie St. Cäcilia, einen Titel, den er mit vielen international berühmten Musikern gemein hat. Bartolucci gab mit dem Chor der Sixtinischen Kapelle viele, viele Konzerte sowohl in Italien als auch im Ausland, und der Katalog seiner Kompositionen wurde ein sehr dickes Buch: sie wurden in 40 Bänden veröffentlicht, und wir finden sowohl Motetten, Messen, Oratorien, Orgelstücke und Werke für Chor mit Orchester als auch Kompositionen für Klavier, Geige und Kammermusik. Im Jahre 1968 nahm der berühmte amerikanische Sänger Perry Como eine seiner sechsstimmigen Motetten und machte davon eine Platenaufnahme mit englischem Text von Ray Charles und einer besonders angefertigten musikalischen Bearbeitung. Seit er – wie erwähnt – 1997 in den Ruhestand ging, ist er immer noch sehr aktiv als Dirigent und Komponist. Im November 2010 ernannte ihn Papst Benedikt XVI. zum Kardinal der katholischen Kirche, eine hohe Ehre in Anerkennung der riesigen Verdienste in seinem musikalischen Leben.
Bartoluccis musikalische Sprache
Die 1920er Jahre, die Bartolucci prägten, waren für die gesamte musikalische Welt von großer Bedeutung. Während dieser Jahre wurde die uralte Tonalität von Schönberg in Deutschland zerschmettert. Sogar in Frankreich experimentierten die Musiker mit anderen Methoden, um sich von der Herrschaft der Tonalität zu befreien. Viele Komponisten probierten neue Harmonien aus, wobei sie oft die Kirchentonarten als Möglichkeit einer neuen Sprache wiederentdeckten. Ravel und Debussy benutzten oft Kirchentonarten, allerdings nicht systematisch. Es wäre nützlich, Bartoluccis Musik im Vergleich zur sich wandelnden musikalischen Sprache dieser Epoche zu analysieren. Ein solcher Vergleich wäre aber nur dann bedeutsam, wenn wir auch die kulturelle Atmosphäre und die Umgebung in Betracht ziehen, in der Bartolucci seine Musik schrieb.
1) Der römische Kirchenmusiker
Wir wollen feststellen, dass Bartolucci als Musiker zutiefst vom Christentum geprägt und zutiefst mit dem liturgischen Leben befasst ist. Bartolucci gehört zur Welt der Messen, der Gebete, der Kantoren und der Orgeln. Wir können weder seine Person noch seine musikalische Sprache verstehen, wenn wir ihn nicht aus dieser Perspektive betrachten. Seine Kunst gehört dem einfachen Volk – sie spricht Menschen mit schlichtem und spontanem Glauben an, und es gibt Zeiten, wo man das Gefühl hat, dass der einzige Grund für die Existenz seiner Musik darin besteht, dass sie dem Volk gehören soll. Diese geistliche Kraft, die er vom Volk bezog, wird in Noten umgeformt und dann an das Volk zurückgegeben. KirchensängerInnen verbinden das Volk durch seine Kunst mit Gott: sie drücken Gott gegenüber die Hingabe des Volkes aus; sie zeigen dem Volk ein wenig von der Schönheit Gottes. Aus diesem Grunde ist es sehr wichtig, die Kunst so zu erlernen, wie es ein Handwerker tun würde, indem er in der Nähe von denen arbeitet, die mehr davon verstehen, indem er Tradition aufnimmt.
Es gibt einen Aufsatz, in dem Bartolucci von der Funktion und der Musik eines Kirchenmusikers spricht: “Überlegen wir einmal, was “Vorsänger in der Kirche” bedeutet. Vorsänger in der Kirche bedeutet Herold der Heiligen Schrift. Man könnte auch sagen, dass er ein Priester ist, der predigt, indem er singt ( … ) Deshalb ist der Vorsänger in einer Liturgie ein echter Priester, der einen heiligen Text durch die Kunst des Gesanges vorstellt: ein Text, der gesunden wird, erreicht manchmal die Seelen der Gläubigen wirkungsvoller. Die Musik in der Kirche ist nicht nur dazu da, die liturgischen Funktionen zu verzieren. Ihre grundsätzliche Rolle besteht darin, Kraft hinzuzufügen, auszulegen, dem heiligen Text neues Leben zu verleihen, so dass er um so wirksamer in die Seelen der Gläubigen eindringt”. Bartolucci ist diesen Vorstellungen sein ganzes langes und fruchtbares Leben lang treu geblieben.
Es gibt einen wunderschönen Text von Guido Pannain, einem berühmten italienischen Musikwissenschaftler, geschrieben nach einem Konzert des Chors der Sixtinischen Kapelle, vom Maestro dirigiert: “In der Aufführungen des Chors der Sixtinischen Kapelle, lauscht den Knabenstimmen, den Stimmen, die frei und schlicht zum Himmel des Gesangs aufsteigen, die wie weiße Wolken am grenzenlosen Himmel herumwandern; lauscht den Männerstimmen, wie leicht diese Stimmen sind, mit welcher Süßigkeit sie schattengleich in der Luft schweben; wie diese Harmonie ohne Namen – Musik – sich in der klingenden Linie entfaltet und sich in Wogen der Musik verliert, sich verwickelt und sich an sich selbst freut; sich selbst betrauert und dann im Äther verschwindet … Die Aufführungen des Chors der Sixtinischen Kapelle dürfen nicht mit dem verglichen werden, was wir normalerweise “Konzert” nennen. Sie sind geistliche Versammlungen, in denen die Musik die Riten ausführt und ein Fest beschert” (Il Tempo, 23. Februar 1963 in der Cappella Sistina, Gennaio/Marzo 1964, S. 19).
2) Heiliger Text
Wenn wir Bartoluccis Musik gründlich verstehen wollen, genau so, wie wenn wir gregorianischen Choral und Polyphonie verstehen wollen, so müssen wir die bedingungslose Vorherrschaft des Textes in seiner Musik hervorheben. Der Text ist nicht etwas, das in die Musik eingefügt wird, sondern er bestimmt die Form der Komposition selbst. In der modernen Musik gibt es verschiedene musikalische Formen, die den Gebrauch des Textes bestimmen. In der liturgischen Musik ist der Text jedoch der Herrscher der Komposition, er bestimmt die Schwerpunkte von Spannung und Entspannung, er bestimmt, was wichtig ist. Selbst wenn eine Motette ihre eigene Form besitzt, so wird die niemals so hervorgehoben werden wie die Form und die Bedeutung oder sogar die Grammatik des Textes, was grundlegend ist für eine korrekte Interpretation jeglicher Komposition dieser Schule. Deshalb ist der Komponist also ein Interpret des heiligen Textes, und Palestrina wird mit Recht als “der theologische Musiker” bezeichnet.
3) Kirchentonarten
Durch die harmonische Sprache, die er wählte, schwimmt Bartolucci gegen den Strom seiner Zeit: er beschloss, sich in den Kirchentonarten auszudrücken, einer Sprache, die die traditionellen Tonleitern benutzt, auf denen der gregorianische Choral und die Polyphonie der Renaissance begründet waren. Was sind Kirchentonarten? Sie sind diverse Anordnungen der Töne und Halbtöne einer Tonleiter. Es kann eine riesige Anzahl Kirchentonarten geben.
Die Kirchentonarten, die in der großen Polyphonie zum Einsatz kamen, sind von denen des gregorianischen Chorals abgeleitet: “Die Polyphonie nahm ihren Ursprung aus der Anwendung der Kirchentonarten des gregorianischen Chorals. Unter den Charakteristika der Tonalität der Gregorianik – insbesondere melodische Floskeln, Anfangs- und Kadenznoten, und Endnoten – können mühelos in die polyphone Musik umgepflanzt werden” (Frans Wiering, “The language of the modes”, New York: Ed. Routledge, 2001, S. 10).
Ich glaube, dass es von Nutzen sein wird, wenn wir uns mit der Vorstellung der Kirchentonarten befassen, so wie sie vom berühmten Gelehrten Harold S. Powers definiert wurden. In dem schon erwähnten Buch von Frans Wiering wird diese Vorstellung mit der von Bernhard Meier verglichen, einem anderen berühmten Experten zum Thema Kirchenton. Dennoch befindet sich ersterer näher an der Praxis der römischen Schule. Wir wollen uns Frans Wierings Erklärung anschauen: “Während Meier den Kirchenton als natürliche Eigenschaft der Polyphonie der Renaissance betrachtete, hielt Powers den Kirchenton in erster Linie für ein Klassifikationssystem. Wenn man es im Nachhinein bei musikalischen Werken einsetzt, dann steht den Kirchentonarten nicht ohne weiteres ein Platz im Reich der Komposition zu. Dieser Platz wird von den Tontypen eingenommen, die dem Komponisten gleich zu Anfang Entscheidungen abverlangen: Schlüssel, System und Endnote. Während Powers die allgemeine Notwendigkeit der Kirchentonarten vor Beginn der Komposition bestreitet, so sieht er sie doch als wichtiges Element im musikalischen Denken der Periode, beispielsweise in der Anordnung einer Anthologie, oder als “musikalisches Dogma” der Kirche. Wenn ein Komponist beschließt, eine Komposition in einer Kirchentonart zu schreiben, dann komponiert er in Wirklichkeit in einem Tontypus, der eine Kirchentonart darstellt. Um mit Powers zu sprechen, sollten wir Tontypen so betrachten, “als ob sie dazu ausgewählt worden wären, eine Kirchentonart “zu vertreten”, als Verkörperung einer traditionellen Kategorie dazustehen”. Powers berief sich auch auf die anthropologische Unterscheidung von “Ethos” und “Emos“. Wir bezeichnen ein Phänomen als “ethisch”, wenn es von der Kultur unabhängig ist; es ist “emisch”, wenn es Kenntnis des kulturellen Zusammenhanges voraussetzt. Powers sieht Kirchentonarten als emisch und Tontypen als ethisch an” (ebenda, S. 10). Also ist die Wahl einer Kirchentonart die Frucht eines spezifischen kulturellen Zusammenhanges. Wie schon gesagt – der “Herrscher” einer Komposition ist der Text mit seiner literarischen Rhetorik, und es ist dieser Text, der auch den Kirchentoncharakter der Komposition vorschlägt. Es ist unmöglich, römische Polyphonie zu verstehen, wenn man nicht die Tatsache erkennt, dass sie nicht in erster Linie eine musikalische Angelegenheit ist: vor der Musik kommt die Verbindung mit einem Text, mit einer Liturgie, mit einer Tradition, mit einer sozialen Umgebung: wo diese fehlt, fehlt auch der tiefe Kern.
4) Sangbarkeit
Bartoluccis harmonische Sprache zielt nicht auf extreme Dissonanzen hin; sein Hauptanliegen besteht darin, die seelischen Gemütsbewegungen durch den Einsatz der vollen Wirkungskraft des Gesangs zu intensivieren. Dies ist mit dem italienischen Cantabile verwandt, das sehr natürlich mit der Ausdruckskraft eines einzelnen Vorsängers als Schlüsselfigur funktioniert, besser, als wenn der Vorsänger den Anforderungen eines großen Chores unterworfen wird, wie es in der angelsächsischen Tradition häufiger der Fall ist. Durch die Schönheit seiner Musik neigt Bartolucci dazu, wahres und ehrliches Gefühl zu verstärken, ohne durch Erregung oberflächlicher Emotionen in banale Sentimentalität zu verfallen.
5) Respekt gegenüber der Tradition
Bartolucci besitzt großen Respekt für Tradition, wie wir gesehen habe, einen Respekt für das, was wir von der Vergangenheit geerbt haben. Was ist Tradition? Tradition bedeutet tradere, weitergeben, sie ist eine Brücke zwischen gestern und heute, sie ist eine Gabe der Vergangenheit an die Zukunft. Der Historiker Eric Hobshawm definiert sie folgendermaßen: “Eine Gruppe Praktiken, die normalerweise von offen oder stillschweigend anerkannten Regeln beherrscht wird, mit rituellem oder symbolischen Charakter, die darauf angelegt sind, durch [stete] Wiederholung gewisse Werte und Verhaltensnormen einzuschleifen, und die automatisch Kontinuität mit der Vergangenheit als gegeben betrachtet” (“Introduction: Inventing Traditions” in Terence W. Tilley, “Inventing Catholic Tradition”, Orbis Books: New York, 2001, S. 51). Sie ist der Kommunikationsvorgang einer spezifischen Gemeinschaft, in ihr hält diese Gemeinschaft an ihrer Identität fest.
Bartoluccis Vorstellung von Tradition hängt in großem Maße von seinen Vorstellungen zur Musikerziehung ab, also demselben Konzept, das die große römische Schule aufrecht erhielt. Man kann Musik aus der Erfahrung lernen, man lernt, indem man Musik macht. Die Erfahrung – was wir pratica nennen – ist das Grundelement des Lernens; genau so wie es für Schüler der Malerei war, die ihre Kunst lernten, indem sie in der Nähe der Meister arbeiteten, genau so, wie es für die Musiker war, die die Geheimnisse der Kunst der Musik im Chor entdeckten. Bartolucci wiederholt den folgenden Satz immer wieder: “Die Musik muss bei denen studiert werden, die etwas von der Musik verstehen”. Die, die die Musik kennen, müssen sie studieren. Das bedeutet, dass man in akademischen Institutionen zwar fortgeschrittene Forschungsarbeiten zum Thema der liturgischen Musik unternehmen kann, aber den tiefen Kern dieser Musik kann man nicht in der Schule oder Hochschule verstehen lernen. Diesen Kern erreicht man nur durch das Erfahren des liturgischen Lebens im Chor, an der Orgel, wenn man nach traditionellen Mustern arbeitet. In gewisser Weise lernen wir, ohne zu merken, dass wir lernen.
Der berühmte Theologe Yves Congar bietet die folgende Erklärung an: “In den letzten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts machte der Heilige Basilius einige tiefschürfende Beobachtungen zur Art und Weise der Tradition, indem er sagte, dass die Tradition agraphos ist – ungeschrieben: im selben Augenblick, wo geschriebene Texte weitergegeben werden, fügt die Tradition, als ihren Beitrag, etwas anderes hinzu, etwas, das vom Geschriebenen abweicht” (“La Tradizione e la vita della Chiesa”, 3. Auflage, Cinisello Balsamo (MI, Italien): Edizioni San Paolo, 2003, S. 27). Verschiedene Gelehrte, die sich nur auf Bücher über die Musikwissenschaft verlassen, haben an dieser Vorstellung einiges auszusetzen. Obwohl diese Bücher Methoden vorschlagen, wie man verschiedene Theorien klassifizieren kann, sind sie nicht immer zuverlässig, wenn es sich um die lebendige Erfahrung und Aufführung von Musik handelt.
In seinem Film “Cento Chiodi” [Hundert Nägel], der vom Leben Jesu inspiriert ist, zeigt der italienische Filmregisseur Ermnno Olmi eine Szene: in einer Bibliothek werden viele Bücher gekreuzigt. Ein Aufstand gegen die schriftliche Kultur? Eigentlich nicht. Der Bibelgelehrte Gianfranco Ravasi (heute Erzbischof und Präsident des päpstlichen Kulturamtes) deutet diese Szene folgendermaßen: sie ist keine Entweihung von Büchern, sondern eine Entheiligung. In einem Interview sagte eben dieser Olmi, dass wir sehr oft viel zu sehr durch schriftlich niedergelegte Doktrinen gebunden sind, und dass uns das wirkliche Leben abgeht. Sokrates schrieb nichts, Buddha und Jesus auch nichts. Hier liegt, so glaube ich, der Kern von Bartoluccis Botschaft: hütet euch vor dem geschriebenen Wort, aber seid euch mehr des Geistes gewahr, der diesem Wort Leben verleiht; wenn Wörter Wörter bleiben (wie in einem Staatsvertrag oder in einer Partitur), dann fehlt ihnen das Leben. Wir lesen bei Paulus, dass “wir dienen sollen im neuen Wesen des Geistes und nicht im alten Wesen des Buchstabens” (Römer 7,6). Es ist dieser Geist, der die Seele der “Tradition” ausmacht, die Seele der Menschen im gesamten Verlauf der Geschichte. Es ist diese Tradition die unsere Ahnen genährt hat, und wir sind im Begriff, die Verbindung mit ihnen zu verlieren. Es ist diese Tradition, die uns wahres Verständnis und eine bessere Zukunft bringen wird.
Wenn man alles in Betracht zieht, so ist Bartoluccis künstlerisches Leben lang und fruchtbar, und noch viel mehr wird im Hinblick auf kulturelle und historische Entwicklungen dazu gesagt werden müssen. Aber was ich jetzt sagen kann, ist, dass seine Musik einen mächtigen Weg darstellt, auf dem die Zuhörer zur Betrachtung des geistlichen Wesens gelangen können.
Aureli Porfiri ist italienischer Organist, Chorleiter und Komponist, der zur Zeit an der Universität St Joseph in Macau, China, lehrt und dort für die Musik verantwortlich ist. Darüber hinaus leitet er das Chorsingen der englischen Abteilung der St.-Rosa-de-Lima-Schule. Er arbeitet als Gastdirigent für die Abteilung für Musikerziehung am Konservatorium von Schanghai, China. Er hat vier Bücher und über 200 Artikel veröffentlicht. Als Komponist hat er Dutzende Psalmen, Oratorien, Kirchenlieder, liturgische Gesänge und Motetten in Italien, Deutschland und den USA veröffentlicht. E-mail aurelioporfiri@usj.edu.mo
Übersetzt von Irene Auerbach, England