Von Andrea Angelini, ICB Managing Editor
Ich traf Tõnu Kaljuste in einer der besten Pizzerias von Rimini zu einem gemeinsamen Abendessen nach einem harten langen Tag im Cesena Musikkonservatorium, wo der berühmte estnische Künstler vom 17. bis zum 19. Februar 2011 eine Masterclass für Sänger und Chorleiter mit dem Schwerpunkt der Chormusik von Arvo Pärt leitete. Das Repertoire beinhaltete einige seiner berühmtesten Lieder wie das Magnificat, Da nobis pacem, Which Was The Son…. Fans seines Repertoires waren in großer Anzahl erschienen: die 24 Teilnehmer des Kurses kamen nicht nur aus Italien sondern auch aus Frankreich, Deutschland und sogar Australien. Ein Abschlusskonzert und die übliche Verleihung von Zertifikaten stellten den Höhepunkt dieser wundervollen Erfahrung dar, die von der Leitung des Cesena Konservatoriums in Zusammenarbeit mit der Association Musica Ficta organisiert wurde.
Andrea Angelini (AA): Was war die wichtigste Entscheidung, die Sie je getroffen haben, die Sie zu dem Musiker machte, der Sie heute sind?
Tõnu Kaljuste (TK): Es war sehr wichtig und hilfreich für mich, von Komponisten umgeben zu sein. Sie gaben mir ein extremes Interesse an dieser Art von Musik. Wenn man nur ein Instrument lernt, wie Klavier oder Geige, studiert man eine große Menge Musik der Vergangenheit. Aber wenn man von Komponisten umgeben ist, denen man nahe steht, findet man seine authentische musikalische Muttersprache. Das war eine wichtige Botschaft. Mein Vater war Kinderchorleiter und Musikpädagoge. Er schrieb viele Schulbücher und war ein Fanatiker des Kodaly Systems. Ich sang in seinem Kinderchor, und wahrscheinlich fing alles dort an. Ich weiß nicht sicher, ob ich an einem speziellen Punkt meines Lebens entschieden habe, Musiker zu werden, oder ob ich mich selbst von Anfang an als Musiker gefühlt habe. Es ist wie wenn man auf dem Wasser schwimmt: die Welle bringt einen irgendwo hin in der Welt. Bei mir war es so mit der Musik.
AA: Die Musik von Arvo Pärt ist in Italien und weltweit sehr beliebt, viel mehr als die von anderen zeitgenössischen Komponisten. Was, glauben Sie, sind die Gründe, die zu diesem Erfolg geführt haben?
TK: Talent, Punkt! Reines Talent. Er schrieb Musik während der Sechziger, indem er ein Collagesystem mit verschiedenen Techniken nutzte; er komponierte Lieder für Kinder, und änderte dann seine Meinung und begann mit dem großartigen Tintinnabuli Stil. Heute hat er diesen Tintinnabuli Stil mit verschiedenen Dingen vermischt. Es ist nicht wichtig, welche Technik er benutzt. Er ist ein sehr guter Komponist!
AA: Wenn wir von zeitgenössischer Musik sprechen, denken wir augenblicklich an die „Schule von Darmstadt”. Die ist allerdings nicht so beliebt, da die Menschen sagen, sie berühre die Herzen nicht. War Pärt ein Vertreter der Schule von Darmstadt, bevor er mit dem Tintinnabuli Stil experimentierte? Oder wie kam es dazu?
TK: Was in einem Komponisten vorgeht, können wir nicht wissen. Aber wenn man sich seine ältesten Partituren, wie die Second Symphony oder Pro et contra oder Solfeggio für Chor ansieht, merkt man, dass seine Kompositionen immer mit Algebra, mit mathematischen Elementen, und immer in einem sehr klaren System miteinander verbunden waren. In späteren Stücken, wie Adam’s Lament, begann er, mit einer neuen Kraft zu fliegen. Überraschenderweise wurden alle Stile und all die Algebra, die er zuvor benutzt hatte – und die vorher wichtig waren – in eine neue und wahrscheinlich viel freiere Art der Kommunikation umgewandelt. Hier kommen wir noch einmal auf das Talent des Komponisten zurück. Er kann gute Musik komponieren, die berührt. Er kann Emotionen kommunizieren; manchmal kommuniziert er Distanz, manchmal bewegt er sich in einen Bereich, den man das Mystische nennen könnte, aber es ist nur pure Musik, eine unabhängige musikalische Sprache mit wunderschönen Elementen, das ist der Punkt! Er sagte mir, “Für meine Musik ist es wichtig, dass Du nur eine Note spielst, wunderschön”. Aber in mancher Musik, in mancher zeitgenössischen Musik, kann man alle Noten schön spielen ohne dass einem die Musik dieses Gefühl, diese Schönheit zurückgibt. Das ist natürlich ein gefährliches Gebiet; jeder hat seine eigene Definition von Schönheit. Diese neue Musik atmet immer gemeinsam mit dem Publikum.
AA: Wenn Sie Konzerte geben, führen Sie Pärts Musik dann auf Ihre eigene Weise auf, oder halten Sie sich streng an die Vorgaben des Komponisten?
TK: Ich folge seinem Beispiel und bringe aber auch etwas Eigenes hinein. Manche Entscheidungen waren weder seine noch meine, aber zusammen ergeben sie eine neue Idee. Er ist ein einfühlsamer Komponist; normalerweise sieht er seine Partituren viele, viele Jahre nach ihrer ersten Aufführung noch einmal durch: Da nobis pacem wurde 2009 überarbeitet. Wenn man ein Stück aufführt muss man wissen, welche die letzte Version ist. Heutzutage ist es einfach ein Stück zu ändern – Du musst nur ein paar Tasten auf dem Computer drücken und schon hast Du eine neue Version!
AA: Volksmusik für Chöre ist in Europa sehr beliebt. In vielen Ländern, vor allem Ungarn, den baltischen und skandinavischen Ländern, Russland, in Norditalien und anderswo fühlen Menschen, dass Traditionen bewahrt und durch Musik verbreitet werden können. Wie kann man junge Leute für Lieder interessieren, die ihnen von einer “Welt der Vergangenheit” erzählen, die fast verschwunden ist?
TK: Wir müssen Kultur und Geschichte kennen um zu verstehen, wie sich Musik an bestimmten Orten entwickelt hat. Musikalische Sprache war Teil der Kommunikation; sie half Menschen zu sprechen, zu leben und zu atmen.
AA: Aber Traditionen erinnern an das Alte; junge Menschen interessieren sich mehr für Techno oder Rockmusik. Wie können wir junge Menschen dafür interessieren, von Ereignissen zu singen, die 20, 30, 40, 50 Jahre zurückliegen?
TK: Ich glaube, jeder hat hier seine eigenen Ideen. Man kann Techno oder Pop Musik nicht aufhalten. Es gibt Tausende, Millionen Menschen, die in diese Richtung gehen. Welche Musik auch bevorzugt wird, sie ist Teil unseres Lebens, und es ist wichtig, keine Konflikte zwischen den verschiedenen Stilen zu schaffen. Manchmal nutzen neuere Musikstile interessante Folk-Elemente und bringen sie in die zeitgenössische Welt. Vielleicht gibt es Zusammenhänge, die jungen Menschen helfen zu verstehen, was Folklore für unsere Kultur und Geschichte bedeutete, wie Musik begann und was diese Elemente waren. Heutzutage ist die Marketingindustrie so fantastisch, aber wenn Menschen beginnen, Musik zu verstehen, was kaufen sie dann jeden Tag? Es ist wie ein Audiopilot – denk mal darüber nach – manchmal gibt es viele Menschen, die sich der alten Musik verbunden fühlen und sie am Leben erhalten. In Europa mag es schwierig erscheinen, diese Theorie zu verstehen, da die Verbindung zwischen historischer Folklore und modernem Leben nicht so frisch ist, aber wenn man zum Beispiel nach Asien oder Indien schaut, sieht man wie unterschiedlich wir – musikalisch gesehen – denken. Wenn wir uns intensiver mit dem „Raga“ System beschäftigen, stellen wir fest „Wow, wie viele Elemente sind in diesem Muster enthalten!“. Wir können nicht all diese Elemente erklären, aber wir wissen, dass wir ein bisschen mehr über sie lernen müssen.
AA: Veljo Tormis und Arvo Pärt im Spiegel. Was bedeuten sie für Estland und wo ist Estland in ihren Werken vertreten?
TK: Ich glaube, dass jeder gute Komponist einzigartig ist, und dass er nicht speziell zu einem Land gehört. Gute Musik ist überall, aber natürlich ist Veljo Tormis ein besonderer estnischer Komponist, da er die Lieder und Traditionen unserer sehr alten estnischen Folk-Musik wiederbelebt hat. Als er begann, estnische Volksmusik zu arrangieren, war er sich der Kleinheit des Landes bewusst und wollte die Kultur seines kleinen Mutterlandes bewahren. Es spielte für ihn auch eine wichtige Rolle, dass die ursprüngliche ugro-finnische Sprache fast in Vergessenheit geraten war bei den Menschen dieses Landes, das für viele Jahre zu Russland gehörte. Als Tormis die sechs Cycles (Livonian Heritage, Votic Wedding Song, Izhorian Epic, Ingrian Evenings, Vepsian Paths und Karelian Destiny) schrieb, wusste niemand über ihre Herkunft. In der Vergangenheit lebte eine große Bevölkerungsgruppe hier, die unterschiedliche – heute tote – Sprachen gesprochen hatte, und Tormis dachte, Estnisch wäre die nächste, die aussterben würde! Es gab nur die Kraft der musikalischen Traditionen gegen die starke russische Dominanz der Kultur. Zu der Zeit, als er komponierte, wurde die volkstümliche Musik mit Hilfe von romantischen Arrangements herausgeputzt. Wenn man europäische Volksmusik hört, ist es manchmal schwer zu sagen, ob es sich um ein dänisches oder deutsches Lied handelt; es gibt so wenige Unterschiede in den Harmonien oder Arrangements. Aber die wahre estnische Folklore brachte Veljo Tormis auf die Idee, nur die ursprünglichen Lieder zu zeigen, ohne die Melodie mit zu vielen dieser typischen romantischen Harmonien zu verschleiern. Es gefällt mir, was Strawinsky mit der russischen Musik gemacht hat und wie viele Komponisten die ursprüngliche Folklore wiederentdeckt haben. Veljo Tormis hat uns vorbereitet, unser eigentliches Gesicht zu entdecken. Ich glaube, er brachte den Esten die musikalische Sprache der estnischen Muttersprache zurück. Sie entdeckten ihre eigene Folklore, und Veljo Tormis ermöglichte es den Menschen, Traditionen zu singen, die lange Zeit vergessen waren.
Arvo Pärt arbeitet auf ganz anderem Gebiet. Ein Beispiel: Ich kann sagen, Veljo Tormis’ Chorleitung ist “unten” (Richtung Erdboden) und Arvo Pärt’s Chorleitung ist „oben“ (Richtung Himmel). Manchmal muss man unten bleiben, manchmal muss man gen Himmel fliegen. Aber hierbei darf man nicht vergessen dass beide Richtungen, beide Seiten, sehr alt in der estnischen Musikkultur sind! Dann haben Sie mich gefragt, was die Beiden für Estland bedeuten und ob Estland stolz auf diese Komponisten ist. Was soll ich sagen? Sie sind wie eine Visitenkarte für unser Land, Elemente der nationalen Propaganda, in einem guten Sinne! Estland ist so klein, und ohne ein starkes Kultursystem wie in den Vereinigten Staaten, wo Komponisten sehr geschätzt sind und von der Regierung gefördert und ins Ausland gesandt werden, wie beispielsweise Bernstein. Wir haben eine andere Dimension des Konzepts „Beliebtheit in der Welt“.
AA: Arvo Pärt lebte viele Jahre seines Lebens im Ausland; hat diese Tatsache dem Bild von Estland in irgendeiner Weise geschadet? Konnten Menschen ihn nicht als wahren estnischen Kulturvertreter betrachten?
TK: Pärt ist kosmopolitischer als Tormis, und trotzdem schrieb er wundervolle Musik für Kinder in der estnischen Sprache, vor allem in seiner Jugend. Pärt ist in einer anderen Liga: Er ist zum Beispiel orthodox. Zwei unterschiedliche Menschen, aber beide sind sehr berühmt in Estland. Arvo Pärt war nach dem Zweiten Weltkrieg Student von Veljo Tormis.
AA: Estland ist ein kleines Land, aber musikalisch gesehen groß. Was ist das Geheimnis, ein „singendes Land“ zu werden? Wie stark hat die sowjetische Ära den Wunsch nach Frieden durch Musik beeinflusst?
TK: Wie ich zuvor gesagt habe, existierten diese Lieder in der estnischen Folklore seit Hunderten von Jahren. Die Macht der Lieder kann die Welt ändern, kann Steine zu Geld machen, kann magische Dinge erschaffen. Dies gab es schon in unserer alten volkstümlichen Musik, aber als Estland vom Russischen Reich abbrach, begannen die Menschen zum ersten Mal gemeinsam von Frieden zu singen: Tausende von Sängern aus dem ganzen Land kamen im Sommer 1869 nach Tartü und gründeten – ganz spontan – das Laulupidu (Estnisches Song Festival), eines der größten Amateurchorereignisse in Europa. Estnischer Nationalismus begann in diesem Moment. Zwischen dem Ende des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts gründeten viele junge Komponisten überall in Europa “nationale Schulen”, um die typischen melodischen Elemente der musikalischen Folklore zu bewahren.
AA: Glauben Sie, dass Chormusik für die Friedensbewegung während der Sowjetära eine wichtige Rolle gespielt hat, oder war sie nicht so wichtig?
TK: Ja, sehr wichtig! Die Menschen gingen nicht auf die Straße um zu protestieren, Autos zu demolieren, Scheiben einzuschlagen… Sie kamen einfach zusammen, um zu singen. Die Macht der Musik!
AA: Meiner Meinung nach ist ein Chorstück ein Text, der in Musik gekleidet ist. Erzählen Sie mir von der poetischen Kraft der Wörter.
TK: Die poetische Kraft kommt mit der Musik. Drei große Sprachen treffen aufeinander: Text, Literatur und Musik. Wenn die Musik gut ist, hilft sie dem Text zu fliegen. Gregorianischer Gesang wurde zum Beispiel in der Kirche benutzt, um die Herzen zu berühren, mit einfachen aber sehr effektiven Melodien.
AA: “Die menschliche Stimme ist das perfektionierteste Instrument überhaupt”. Stimmen Sie mit diesem Satz von Arvo Pärt überein?
TK: Jedes Instrument ist perfekt! Man könnte denken, dass die menschliche Stimme die höchste Perfektion und Schönheit ist, aber… es kommt darauf an, wer spielt und was er spielt. Ich würde sagen, dass es wahr ist, wenn alles Material gut funktioniert… Aber das ist nicht immer so: manchmal sind Sänger die angespanntesten Menschen der Welt. Die Stimme ist wie ein Geheimnis: man hat sie, aber man kann sie nicht berühren wie ein Instrument, wie eine Geige… Sie ist mit vielen Dingen innerhalb des menschlichen Körpers verbunden. Es stimmt, dass jedes Instrument der Welt versucht, die menschliche Stimme zu imitieren, wenn es von einem guten Spieler gespielt wird…
Tõnu Kaljuste gründete und leitete den Estnischen Philharmonischen Kammerchor (EPCC) (1981) und das Tallinn Kammerorchester (TCO) (1993). Er war regelmäßig für einen Grammy nominiert und gewann mehrere Preise für seine Aufnahmen (Diapason d’Or de l’Année 2000, Cannes Classical Award, Edison Prize). Kaljuste unterrichtete am Tallinn Konservatorium und leitete die Estnische Nationaloper. Er arbeitete mit vielen Orchestern und Chören weltweit. Während der 90er Jahre leitete er neben seiner Arbeit mit dem EPCC und dem TCO auch den Schwedischen Rundfunkchor und den Niederländischen Kammerchor. Seit 2001 arbeitet er international als freier Chorleiter. Er wurde zum Mitglied der Königlichen Musikakademie Schwedens ernannt und wurde mit dem Japanischen ABC Music Fund Award, dem Internationalen Robert Edler Preis für Chormusik und dem Ersten Preis des Estnischen Kulturfonds 2004 ausgezeichnet. Kaljuste widmete einen Großteil seiner Arbeit der Musik der estnischen Komponisten (Heino Eller, Arvo Pärt, Veljo Tormis und Erkki-Sven Tüür), deren Kompositionen er für das Plattenlabel ECM aufnahm. Er nahm auch alle Vespern und Litaneien von Wolfgang Amadeus Mozart sowie die Kirchenmusik von Antonio Vivaldi für den Carus Verlag auf. Er arbeitete zusammen mit Komponisten wie Alfred Schnittke, György Kurtag, Krzysztof Penderecki, Erik Bergman, Giya Kancheli, Sven-David Sandström, Knut Nystedt, Einojuhani Rautavaara, Brett Dean und R. Murray Schafer. 2004 nahm das Projekt des Nargen Operntheaters seine Aktivitäten unter der Leitung von Kaljuste auf. Während der Spielzeit 2004-05 wurden 3 Opern Joseph Haydns aufgeführt, Jaan Tätte’s Stück “Lantern” und Veljo Tormis’ “Estnische Balladen”, letztere in einer Gemeinschaftsproduktion mit dem Von Krahli Theater. In der Spielzeit 2005-06 wurden zwei Kammeropern des Komponisten Tõnu Kõrvits aufgeführt. Es gab in dieser Spielzeit auch internationale Gastauftritte unter anderem mit dem Mahler Kammerorchester, dem Brabants Orkest, dem Malmö Symphonieorchester, Kopenhagen Philharmonic und dem Münchner Radiosymphonieorchester.
Übersetzt von Christina Kühlewein, Deutschland
Edited by Anita Shaperd