Maschinelles Lernen und Computergraphiken begegnen der polyphonen Chormusik im Häuslichen Comfort-Ratgeber von Eliot Britton und dem Amadeus-Chor
Kathleen Allan, künstlerische Leiterin und Dirigentin des Amadeus Chors (Toronto und Umgebung)
Eine neue Herausforderung
Im Frühling 2020 wurden Chöre mit der größten Herausforderung konfrontiert, die es je in unserer Geschichte gegeben hatte: wie machen wir Chormusik, ohne uns im selben Raum aufzuhalten?
Die Reaktion auf diese Herausforderung kam in Gestalt unzähliger Neuerungen im digitalen Chorwesen. Von Rastern voller schwebender Gesichter bis zu live-gestreamten Konzerten auf Abstand – Chöre bewiesen, was die meisten von uns schon vermuteten: dass nichts, nicht einmal eine weltweite Pandemie, uns davon abhalten würde, gemeinsam Musik zu machen.
Der Amadeus-Chor ist ein semi-professioneller Chor mit etwa 70 Mitgliedern, der regelmäßig Kompositionsaufträge erteilt und neue Werke aufführt, besonders von kanadischen Komponisten. Ganz abgesehen von seinen künstlerischen Ambitionen ist der Chor aber auch in den 47 Jahren seines Bestehens eine untereinander eng verbundene Gemeinschaft geworden. Es war ungeheuer wichtig, dass der Chor auch während dieser Periode der Isolierung weiterhin seine menschlichen Kontakte aufrecht erhielt und sich weiterhin am gemeinsamen Singen freute. Ebenso wichtig war die Fortführung unserer Aufgabe, neue Werke vorzustellen.
Ein neues Format
Als ich beim Komponisten und Medienkünstler Eliot Britton anfragte, ob er für den Amadeus Chor ein Stück für ferngesteuerte Aufführung erschaffen könne, sprachen wir darüber, dass wir aus der Schablone ausbrechen wollten, die schnell zum vorherrschenden “virtuellen Chorformat” geworden war. Er schlug vor, dass seine künstlerische Arbeitsgemeinschaft Quigital dies Projekt übernehmen könnte. Die Gruppe besteht aus einem Komponisten, einem Textdichter, einem Graphiker und einem Software-Entwickler, alle mit Beziehungen zur Chormusik; die Gruppe war bestens ausgerüstet zur Schaffung eines Werkes für digitalen Chor für das Zeitalter der Pandemie.
Quigital ist eine Künstlergruppe, die sich durch Einsatz von interaktiven Kunstmitteln mit der Absurdität der vermarkteten Ästhetik und Kultur beschäftigt. “Es geht weitgehend darum, die unheimliche Seite des Lernens mit Maschinen und des Sammelns von Informationen zu ergründen und dann aufzuzeigen, auf welch liebenswürdige Weise dies der Öffentlichkeit serviert wird”, sagt Eliot Britton. Mit perfekten Markenzeichen, neuartigen technologischen Methoden und ansprechenden interaktiven Episoden richtet Quigital die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis zwischen den großen Konzernen und Verbrauchern – und beleuchtet es auch kritisch. “Die Ästhetik der Markenzeichen hat etwas sehr Beruhigendes und Vertrautes an sich, aber wenn man unter die Oberfläche schaut, finden sich ziemlich beunruhigende und unheilverkündende Faktoren. Das Projekt ist eine subversive Kritik des Kapitalismus und des ungehemmten Sammelns von Informationen”.
Die Pandemie wütete weiter, und die digitale Dominanz im häuslichen Bereich beschleunigte sich immer mehr – da schien das Konzept von Quigital die ideale Methode zu sein, um unsere SängerInnen untereinander in Verbindung zu halten und ein bedeutungsvolles künstlerisches Projekt in fröhlicher Form zu schaffen. So machte sich das Team an die Arbeit – sie nahm Monate in Anspruch – ein satirisches, interaktives musikalisches Internet-Erlebnis zu erstellen unter dem Namen: Ihr Berater für häuslichen Komfort: Ihr neues, schlaues Chor-Zuhause”.
Ein neuer Arbeitsprozess
Schon zu Anfang der Pandemie erfuhren wir, wie so viele Chöre, wie frustrierend der Versuch ist, gemeinsames Singen im Internet zu simulieren. Ob es darum ging zu versuchen, über Zoom zu proben, oder Dutzende Video- und Audio-Aufnahmen zusammenzufügen – es war unmöglich, den musikalischen Zauber zu erzielen, der so mühelos heraufbeschworen wird, wenn alle gleichzeitig im selben Raum einatmen. “Ich möchte etwas tun, das sich in eine andere Richtung bewegt und das wirklich das mit einbezieht, was ein Chor online im 21. Jahrhundert darstellen kann”, sagt Komponist Eliot Britton. “Wie können wir das so einrichten, dass das Publikum interaktiv mitmachen kann?”
Ebenso wichtig war, was die Chormitglieder dabei erleben würden. “Ich dachte an all die aufgeregten Mitglieder von Chören, die in ihrer Umwelt verwurzelt sind, jede/r im eigenen Zuhause”, sagt Britton. “Und ich dachte: wie kann ich das so gestalten, dass es für jede/n Einzelne/n interessant ist? So wurde der ganze Schaffungsprozess dieses Werkes von der Annahme unterbaut, dass jede einzelne Person sich selbst in einem unbekannten Zimmer mit einem unbekannten Mikrofon und in einer unbekannten technischen Qualität aufnehmen würde.”
Statt des traditionellen Vorgangs bei einer Auftragsarbeit: Komponieren, Proben, Aufführen, sollte das Verhältnis zwischen Chor und Komponisten gleichberechtigter sein, mehr auf Gegenseitigkeit (siehe Abbildung 1). In einer Periode der Zusammenarbeit, die sich über die gesamte Konzertsaison erstreckte, lieferte Britton dem Chor immer wieder kleine Bruchstücke, wobei er manchmal Proben beiwohnte, um seine Ideen zu beschreiben und den technischen Prozess der Aufnahme zu unterstützen. Dann lieferten die SängerInnen ihre Aufnahmen an Britton und sein Team zur Bearbeitung und zum Zusammenstellen in die endgültigen elektronischen Kompositionen und den interaktiven Online-Zusammenhang.
Traditioneller Vorgang bei Kompositionsaufträgen: Komponieren ->proben ->aufführen
Vorgang beim Auftragsprozess für Ihr Berater für häuslichen Komfort
komponieren – proben/aufnehmen
In Bezug auf die Komponenten, die musikalisch synchronisiert werden würden, standen selbst die Leit-Aufnahmen, die zu Hause benutzt werden mussten, im Einvernehmen mit der Ästhetik von Quigital. Der Chor wurde auf technisch höchstem Niveau und mit einem Sprecher, der klang wie seine Kollegen aus dem Reklamewesen, durch die Aufnahme geleitet (“Jetzt kommt meine Lieblingsstelle: Ziffer C!), Töne wurden vorgegeben, und es gab sogar Lob für die Aufnahmen: “Alle Achtung – das war unglaublich gut!”
Hören Sie ein Beispiel für diese Leit-Aufnahmen: bit.ly/quigitalclick1
Das neugeschaffene Werk
Das Werk umfasste schließlich vier Sätze (fünf, wenn wir den Abschnitt “Wenn Sie Hilfe brauchen” mitzählen), die alle auf der maßgeschneiderten Webseite quigital.com/smarthome untergebracht sind. Drei Werbe-Clips für das Projekt (die aussehen, als wären sie Anzeigen für nicht-vorhandene Produkte aus der Serie Quigital Berater für häuslichen Komfort) zählen als nullter Satz und sind auf dem YouTube Kanal des Amadeus Chors zu sehen.
I. Bewaffnung, Alarm, Wiederherstellung!
Der erste Satz benutzt Text, erstellt von “Quigital_AI”, dem System für maschinen-geleitetes Lernen, das in diesem Fall so programmiert wurde, dass es halb-verständliche Bruchstücke (die sich auch noch reimten!) ausspuckte, die aus 10 000 Seiten von Gebrauchsanweisungen für häusliche elektronische Geräte zusammengeflickt waren.
Die Musik wurde von einem französischen Chanson der Renaissance inspiriert: “Belle qui tiens ma vie” von Jean Tabourot. Da das ganze Projekt sehr ungewöhnlich sein würde, suchte Britton einen Ausgangspunkt mit leicht zugänglicher Ästhetik. “Etwas Vertrautes als Unterbau für etwas ausgesprochen Ungewohntes macht letzteres verdaulicher. Es gestattet dem Publikum, das sich damit auseinandersetzt, mehr Muster zu erkennen”.
Zufallskombinationen von Amadeus-Stimmen werden hörbar durch Knopfdruck auf “Siehe das nächste Modell”, wodurch eine scheinbar unbeschränkt riesige Anzahl Wege geschaffen wird, mit denen man Spaß an diesem witzigen Anfang des Stückes haben kann.
II. Der Berater für häuslichen Komfort
In diesem Satz ist Quigital_AIs Smart-Home-Text in eine originale sechsstimmige Motette von Eliot Britten eingefügt, die den Dreiton-Jingle von Quigital als musikalischen Kern des fast fünfminütigen Werks nutzt. Der “entspannende, imitierende polyphone Stil” kann auf die Vorlieben der Hörer zugeschnitten werden: jede der sechs Stimmen (SSAATB) kann nach Belieben an- und abgeschaltet werden, während das Stück läuft. Wiederum wird eine vertraute musikalische Ästhetik dafür eingesetzt, dass eine absurde, natürlich total fiktive Botschaft von einem kommerziellen Konzern abgeliefert wird – allerdings nun mit Originalmusik. “Ich machte mich an die Arbeit mit jeder Faser von Renaissance-Kompositionstalent, die ich nur aufbringen konnte. Wir bewegen uns am Rande der Authentizität. Wenn’s nicht schön wäre, würde es nicht funktionieren”.
III. Zeit fürs Aussteigen ins Vorgeplante
Als ausschließlich hörbares Erlebnis wendet sich dieser Satz voll der technologischen Chormelancholie zu. “Fühlen Sie sich abgehängt? Veranlasst der digitale Stress Sie dazu, dass Sie kontrollieren, ob Ihre Stecker auch in Ordnung sind?” – so fragt die Webseite. Drei Solisten übernehmen die Rollen von “Stimme des melancholischen Roboters”, “Unheilverkündende Stimme der Zukunft” und “Kommerziell neutral”, um diesen 2,5 Minuten langen Roboter-Chor abzuliefern.
“Was mir durch dies Projekt klar wurde, war die Tatsache, dass wir uns zu etwas bekennen und dass wir weit über etwas hinausgehen mussten, das als ‘ratsam’ und ‘normal” empfunden wird, um etwas zu schaffen, das wirklich interessant war” – sagt Britton. “Es musste sich letzten Endes völlig zu dieser Vorstellung eines Online-Chorstückes im Geist der Ästhetik der großen Konzerne bekennen”.
Die Zuhörerschaft kann jederzeit “Hilfe” anklicken und Spaß haben an den frechen Hilfe-Videos von Mitgliedern des Amadeus-Chors, die vom Quigital-Team bearbeitet wurden, damit sie noch wirksamer sind. Die vielsagenden Vorschläge wie “Ihr Mikrofon ist nicht an” und “Ich kann Sie sehen, aber … aber … aber ich kann Sie nicht hören” bieten unbegrenzte komische Erleichterung.
IV. Ihr Smart Home
Als ich den vierten Satz ansah, im Grunde ein CGI-Musikvideo, war ich schwer beeindruckt von dem, was Britton und sein Team geschaffen hatten. Irgendwie war es die Zusammenfassung von all den Emotionen, die unser Chor im Laufe eines vollen Jahres im Lockdown durchgemacht hatte. Ich kann den Grund dafür nicht finden, aber es war überwältigend, die Video-Graphiken zu sehen, wie sie sich durch ein Meer von synchronisierten Geräten zur Musikwiedergabe hindurchwinden, eine kurze Erholungspause in der Natur in Anwesenheit des bizarren – natürlich nicht vorhandenen – Quigital Kamera-Angebots, und schließlich die Gesichter der SängerInnen, wie sie sich im Himmel, einer computer-gesteuerten Graphik, widerspiegeln.
Ich vermute, es war die Art und Weise, in der drei gleichzeitig empfundene Gefühle wiedergegeben wurden: das digitale Abgehängtsein, die Überfütterung mit Technischem, und dennoch eine Verbundenheit. Hier wurde das Konzept des “Surrealen” – das Wort, das für mich am besten die gesamte Erfahrung der Pandemie umfasst – zum Äußersten getrieben; die Grenzen zwischen digitalen Darstellungen der Realität und der Realität selbst werden verwischt; vermasste, kommerzielle Manipulation und authentischer emotionaler Ausdruck.
Wir haben uns als Chor “in echt” nicht mehr seit März 2020 getroffen, aber das Engagement unserer Chormitglieder und unseres Publikums ist so stark wie eh und je. Es sind Projekte wie dieses, die es uns ermöglicht haben, Kunst zu schaffen, obwohl wir voneinander getrennt sind. Und obwohl wir den Tag nicht erwarten können, an dem wir wieder den Zauber des Augenblicks erleben, an dem wir alle zusammen einatmen – dieser Auftakt, der so voller musikalischer Vorfreude ist – so sind wir dankbar für die wilde und wundervolle Gelegenheit, mit Britton und seinen Kollegen zusammenzuarbeiten.
Sie können den Berater für häuslichen Komfort erleben auf www.quigital.com/smarthome. Quigital besteht aus Dave Arbez, Eliot Britton, Patrick Hart und Kevin McPhillips.
KATHLEEN ALLAN ist künstlerische Leiterin des Amadeus Chors von Groß-Toronto und von Canzona, dem Berufs-Barock-Chor von Winnipeg. Sie ist begehrt als Dirigentin und Komponistin und ist gleichermaßen im frühen, zeitgenössischen und sinfonischen Repertoire zu Hause. Sie stammt aus Neufundland/Labrador und hat Orchester und Chöre in Kanada, den USA und Japan dirigiert. Kürzlich hatte sie ihre ersten Auftritte als Dirigentin mit den Sinfonieorchestern von Vancouver (2019) und Neufundland (2020). Sie war Empfängerin des Sir Ernest MacMillan Preises für 2016. Sie ist Ko-Direktorin von Arkora, einem Ensemble, das die Grenzen zwischen der Musik unserer Zeit und Meisterwerken des Repertoires der Alten Musik verwischt. Ihre Kompositionen werden von Ensembles in beiden Amerikas und Europa in Auftrag gegeben, aufgeführt und aufgenommen. Sie hat einen Bachelor in Komposition von der Universität von Britisch Kolumbien und einen Master in Dirigieren von der Universität Yale.
Der AMADEUS CHOR VON GROSS-TORONTO: der vielfach preisgekrönte Amadeus Chor, ein semi-professioneller Chor mit Zugang nur nach bestandenem Vorsingen, belebt seit 48 Jahren das künstlerische Leben von Toronto und Umgebung. Der Chor setzt sich für das Beste in der Chormusik ein und bringt – in einer Konzertreihe in Toronto, die er selbst organisiert – Werke von kanadischen Komponisten sowie solchen aus der ganzen Welt zur Uraufführung. Durch Konzertreisen, Festivals, Aufnahmen und Auftritte im inländischen wie im ausländischen Radio ist er weit über die Grenzen von Toronto hinaus bekannt und arbeitet mit vielen Organisationen zusammen, die hauptberuflich mit den aufführenden Künsten befasst sind. Der Amadeus Chor ist stolz darauf, dass er eine führende Rolle in der Ausbildung der nächsten Generation von Chormusikern spielt, durch die Bereitstellung von Workshops für Dirigenten, Komponisten, Sängern und Studenten. Der Chor ist dafür bekannt, dass er energisch die kanadische Musik unterstützt, und er vergibt regelmäßig Aufträge an schon bekannte wie auch aufstrebende kanadische Komponisten. 2019 hieß der Chor Kathleen Allan als künstlerische Leiterin und Dirigentin willkommen. Nach dem er den Abschluss der 35 Jahre unter der Führung von Lydia Adams gefeiert hatte. https://www.amadeuschoir.com
Übersetzt aus dem Englischen von Irene Auerbach, Vereinigtes Königreich