Ana María Raga, Chorleiterin, Venezuela
Wieviel Wissen brauchen wir denn? Welche Praxisformen sollten wir erreichen? Welche unterschiedlichen Fähigkeiten brauchen wir? Ist es überhaupt möglich Chorleitung beizubringen? Sollten Chorleiter immer das gleiche im Kopf haben, egal welche Gruppe sie gerade leiten oder in welchem Land sie leben? Das sind die Fragen, die mir immer durch den Kopf gehen. Unser Fach gehört zwar den Geisteswissenschaften, nämlich der Musik, aber es wird durch menschliche Beziehungen sowie durch den sozialen Kontext des Ortes und der Gruppe stark bestimmt, die wir leiten.
Ein Chorleiter braucht unterschiedliches Werkzeug, verschiedene Fertigkeiten wie etwa als Interpret, Klangbildner, Musiklehrer und als Leiter. In der Musik gibt es meines Erachtens fünf Säulen, die den Kern dessen ausmachen, was die Chorleitung immer beinhalten sollte: Übung von Gesangstechnik und Gestik, Lernen, Proben und musikalische Fertigkeiten.
Ein Chorleiter, der selbst ein Instrument spielen kann, hat noch den Vorteil, dass er sich eines Repertoires aus verschiedenen Zeiten und Stilrichtungen bedienen und sich flexibler dem Chor anpassen kann, um auch technische Fragen unterschiedlich zu lösen. Instrumente haben unterschiedliche Klangqualitäten, die dem Chorleiter ein breiteres inneres Klangspektrum bieten. Ein Klangbildner ist wie ein Geigenbauer. Der Chorleiter ist wie der Geigenbauer eines lebenden Instruments (des Chores), das sich stets verändert, weil Mitglieder kommen und gehen, junge Mitglieder erwachsen werden und andere auswandern usw. Der Chorleiter baut immer wieder auf, bessert nach und formt den Klang der Gruppe. Es ist dann nicht nur wichtig vorzusingen, sondern auch zuzuhören und herauszuhören, was für den einen oder anderen Sänger wichtig oder problematisch sein könnte. Der Klang ist dann wie die Visitenkarte des Chores. Es ist daher wichtig die kindliche Stimme als Vokalinstrument zu kennen, um deren Klang dann im Verband eines Kinderchores organisch weiterentwickeln zu können. Zum Beispiel kennt der Chorleiter die minimal möglichste Lautstärke, die ein gemischter Chor singen kann? Und kennt er auch die maximale Lautstärke? Welche anderen Klangqualitäten sind möglich und wie korrelieren diese mit unserer Gestik?
Einen Chorleiter, der an der Weiterentwicklung von jedem Chormitglied interessiert ist, würde ich als “Musiktrainer” bezeichnen. Als solcher ist er davon überzeugt, dass ein Chormitglied, das nicht nur besser singt, sondern auch besser zuhört, dann auch die Musik als Phänomen begreifen kann, sich seiner eigenen Rolle in der Dynamik bewusst ist, seine Verantwortung im Chorverbund übernimmt; dann kann sich der Chor immer weiterentwickeln. Je mehr musikalische Fähigkeiten der Chorleiter hat, desto mehr kann den Chormitgliedern vermittelt werden. Das ist nicht nur wichtig in Laienchören, sondern auch in professionellen Chören, da wir diese Fähigkeiten unser ganzes Leben lang üben müssen. Als Chorleiter müssen wir immer unterschiedliche Übungsniveaus zur Verfügung haben, die dem Niveau des jeweiligen Chores anzupassen sind. Ein Chorleiter braucht musikalische Ausbildung und kulturelle Vorkenntnisse, aber vor allem soll er sich des Potenzials von Chormusik als Werkzeug in der menschlichen Entwicklung bewusst sein.
Ana María Raga, Venezolanische Chorleiterin und Dirigentin, Pianistin und Vorreiterin in der Ausbildung von Chören. Gründerin der Aequalis-Stiftung. Lehrstuhlinhaberin für Chorleitung an der University of the Arts (UNEARTE). Sie ist außerdem noch Professorin im Masterprogramm für Chorleiter an der Simón Bolívar University (USB). Sie ist auf internationalen Bühnen mehrfach aufgetreten, wie zum Beispiel im Lincoln Center in New York, im National Center of the Performing Arts in Beijing, im National Theater und Konzerthalle in Taipei, im Teatro Colón in Argentinien sowie vielen anderen. Sie hat diverse Workshops zum Thema Chor/Chorleitung in Nord- und Südamerika, Europa und Asien gehalten. E-Mail: anamraga@yahoo.com
Übersetzt aus dem Englischen von J.Aaron Baudhuin, Deutschland