Wer kann segeln ohne Wind? DIE HERAUSFORDERUNG FÜR DAS FERNSEHEN DES EUROPA CANTAT FESTIVALS

  •  
  •  
  •  
  •  
  •  
  •  
  •  
  •  

Eindrücke von Rossana Paliaga, Italien

Wer kann segeln ohne Wind? (Vem kan segla förutan vind?) – fragt ein sehr bekanntes schwedisches Volkslied. Ähnlich konnten wir uns kaum ein Europa Cantat Festival ohne Teilnehmer vorstellen. Aber wir haben auch gelernt, dass wir an Veranstaltungen real oder virtuell teilhaben können. Der Gastgeber der diesjährigen Ausgabe des Festivals in Ljubljana (17.-22. Juli 2021), Javni Sklad RS za kulturne dejavnosti, hat mit der European Choral Association sehr hart daran gearbeitet und den Plan für Workshops, Seminare und Konzerte viele Male verändert und adaptiert, um die Corona-Auflagen zu erfüllen. Aber Zusammenkünfte, Offenes Singen, die unersetzliche Elemente dieses Festivals sind, wurden unmöglich und waren zu schwierig durchzuführen. Außergewöhnliche Umstände erfordern ungewöhnliche Lösungen: Ein riesiger Teil des Programmes erreichte das Publikum durch das erste EC Fernsehprojekt, das es je gegeben hat. Einige Mitglieder des Chor-Fernsehteams erzählen die Geschichte dieser Herausforderung.

Nine hours of daily (mostly live)programming with technically challenging live webcasts
From left to right: Burak Onur Erdem, Jean-Claude Wilkens and Jan Schumacher

JEAN CLAUDE WILKENS – Die Idee

Als klar wurde, dass Workshops wegen der Pandemie gestrichen werden mussten, und es der einmütige Wunsch war, das Festival am Leben zu erhalten, begannen die ECA Musik-Kommission und das TV-Team zu eruieren, welche Veranstaltungen in Ljubljana oder online “abgehalten” werden konnten, um so viel Leute wie möglich in der internationalen Stimmung des Festivals zusammenzubringen.

Die Liste sah recht passabel aus mit Konzerten von Gastgruppen und slowenischen Chören, aber auch Zoom-Sitzungen mit zwei Dritteln des PULS Programms, Offenem Singen, Workshops zum Entdecken. Mein Vorschlag, das EC-TV einzurichten, war offensichtlich: wir mussten alles in eine lesbare Form bringen und ein tägliches Rahmenprogramm als Art Ritual schaffen. Zusätzlich konnte dieses TV-Gerüst alle möglichen Einschübe aus Ljubljana beinhalten, wie z.B. Reportagen und Interviews, um den Zuschauern eine Art Zugehörigkeitsgefühl zu geben.

Die Partnerschaft mit der Hochschule für Rundfunk und Fernsehen war das Startzeichen der echten Geschichte. Das Ergebnis hat alle Erwartungen übertroffen.

 

ALJAŽ BASTIČ – live aus dem Studio

Online-Fernsehen für ein Festival braucht gewissenhafte Planung und involviert eine ganze Menge Leute, Ausrüstung und Koordination. Es ist dem normalen Fernsehen ziemlich ähnlich – man muss präzise auf die Zeit achten, alle Aufnahmen technisch überprüfen und ein gutes Team finden, das für eine längere Zeitspanne arbeiten kann. Natürlich kann es eine Mischung sein – man könnte einen semi-professionellen Live-stream von einer Veranstaltung machen (vier professionelle Kameras, live-Abmischung, einen guten Klang, Licht …), der immer noch viel Planung (und Geld) braucht, aber das wäre noch kein echtes Fernsehen. Beim EC-Fernsehen haben wir beides kombiniert – neun Stunden täglich (großenteils live-) Programm mit technisch anspruchsvollen Live- Webcasts.

Es ist auch viel Hintergrundwissen nötig, wenn man ein Festival-Fernsehen auf die Beine stellen will. Man braucht auch viel technische Unterstützung – Einrichtungen genauso wie Ausrüstung. Es gibt wirklich viele Herausforderungen innerhalb des Festival-Fernsehens; Live-Sendungen abzumischen und Online-Vorlesungen sind nur zwei Beispiele davon.

 

ALFRED JÜRGENS – das Bildungsprogramm

Die Reading Sessions und PULS-Seminare wurden schon lange vor dem Festival von der musikalischen Kommission geplant. Ich schätze, dass dies ein großer Aufwand war. Für die sechs Reading Sessions, bei denen Musikverlage Noten aus ihrem Angebot vorstellen, muss man offensichtlich eine große Vielfalt präsentieren. Ich finde, dass dies ganz gut aufging; wir hatten interessante Präsentationen aus Katalonien, dem Libanon und der Levante, aus Italien sowie aus Kanada, Deutschland und Slowenien.

Für die PULS Referate war die Aufgabe sogar noch herausfordernder: drei Referate am Tag ergeben 18 Referate während des ganzen Festivals. Wir wollten eine große Vielfalt an Themen präsentieren (von slowenischer Volksmusik bis Barbershop, neurowissenschaftliche Erkenntnisse und Online Tools für das Musikmachen aus der Entfernung), eine Bühne für Vertreter aus verschiedenen Ländern mit einer ausgewogenen Repräsentation von Alter und Geschlecht bieten und die ‘heißen Themen’ der heutigen Chorszene hervorheben. Dann mussten wir einen sinnvollen Zeitplan zusammenstellen. Ein Riesenlob gilt der Musikfestivalkommission und Joži Vovk als Leiter des EC-TV, die alle zusammen einmalige Arbeit geleistet haben, indem sie alles im Voraus organisierten. Für uns war im Vergleich dazu wenig zu tun.

Die größte Herausforderung war für uns, dass es keine Flexibilität bezügich der Zeitplanung gab, weil in einem fortlaufendem Fernsehprogramm keine Verschiebungen möglich sind: Wenn ein Zeitfenster 57’45 Minuten beträgt, muss es genau diese 57’45 Minuten lang sein – besonders in den interaktiven Seminaren, wo wir Raum für das Publikum bieten, um sich zu beteiligen und Fragen zu stellen. So mussten wir lernen, flexibel zu sein und eine gute Kommunikation zwischen den Präsentatoren und dem Produktionsteam aufrechtzuerhalten, welches viel größer ist als bei einem »traditionellen« Webinar. Es war keine leichte Aufgabe, da keiner von uns so etwas jemals gemacht hat, aber es war eine sehr spannende Aufgabe und machte auch viel Spaß! Ich hoffe, man ruft mich wieder an, um beim nächsten EUROPA CANTAT TV mitzumachen!

 

ALBERTO PALACIN FERNANDEZ – vorbereitende und tägliche Arbeit  

Ich wurde im Juni ins Fernsehteam geholt, als ich an einem der ersten Projekttreffen zusammen mit den Hauptverantwortlichen teilnahm. Da ich während der Wochen vor dem Festival keine Zeit hatte, begannn der ECA-EC Projektmanager und Kollege Alfred Jürgens für Vorbereitungsarbeiten mit dem EC Musikbüro zusammenzuarbeiten.

Bei meiner Ankunft in Ljubljana begannen Alfred und ich an der Umsetzung der Referate und PULS Seminare zu arbeiten, und später wuchs unser Büroteam auf vier Mitglieder mit der Unterstützung der YEMP während der Festivalwoche. Als Mitglied des ECA-EC Komitees war ich auch froh zu sehen, wie alle meine Kollegen auf verschiedenste Weise zum EC-Fernsehen beitrugen!

Im Vergleich zu den früheren Festivals war diesmal alles technisch viel komplexer. In einem normalen »offline« Festival würden wir uns mit Themen wie Teilnehmerzahlen und Raumverteilung sowie den Notwendigkeiten für die Referenten beschäftigen: die meisten dieser Aufgaben verschwanden nicht völlig, aber sie veränderten sich. Zusätzlich hatten wir viele neue Angelegenheiten zu bewältigen: effektiv mit den Referenten und der musikalischen Kommission zu kommunizieren im Zusammenhang mit sehr verschiedenen Sitzungsformaten (Zoom-Webinaren im Live-Fernsehen, Webinare live aus dem TV Studio in Ljubljana, hybride Veranstaltungen), Probezeiten festzulegen und technische Hilfe zu bieten, Präsentationsmaterialien vorzubereiten und zu bekommen … Aber alles in allem war das Wichtigste, eine funktionierende und verlässliche Kommunikationsverbindung zwischen Musikern, Künstlern, Gästen und dem technischen TV-Team von Aljaž herzustellen.

Da keiner von uns Erfahrung mit Fernsehproduktionen hatte, brachte dies natürlich eine immense Lernerfahrung für unser Team mit sich. Nach dem ersten Tag der Festivalaktivitäten wurde z.B. die Moderation und Leitung einer Live-Fernsehshow, das Schreiben von technischen Scripts oder das Kommunizieren mit einer professionellen TV Crew zu unserer täglichen Routine.

 

JOŽI VOVK – hinter den Kulissen der JSKD

Nachdem klar wurde, dass wir auf fast 3000 Teilnehmer verzichten mussten, darunter viele hervorragende Chordirigenten, Musiker und Referenten, suchten wir nach Möglichkeiten, wie wir zumindest einen Teil der vielfältigen Angebote und die Festivalstimmung in ihre Wohnzimmer daheim bringen konnten. So entwickelten wir die Idee eines interessanten, dynamischen und Aufmerksamkeit heischenden Fernsehprogramms. In der Nacht vor der ersten Sendung war alles, was ich mir wünschte und worum ich betete, dass ich von unserem EC TV-Studio am Morgen um 8:45 Uhr auf den Bildschirmen das Bild sehen und den Ton hören würde. Es war ein überwältigendes Gefühl, genauso wie bei unserer letzten Fernsehsendung!

Ich mochte es, dass Menschen aus verschiedenen Ländern sofort anfingen zusammenzuarbeiten und wir eine Umgebung schufen, wo wir alle unsere Aufgaben kannten und wir alle dasselbe Ziel hatten. Die Tage waren sehr intensiv, der Zeitdruck von Minuten und Sekunden, den eine Fernsehproduktion vorgab, machte uns oft fix und fertig, und trotzdem begannen wir jeden Morgen mit neuer Energie. Wir waren alle Fernsehneulinge, mehr oder weniger unerfahren, und ich denke, wir kamen alle reicher aus diesem Abenteuer heraus, mit neuen Kenntnissen, großartigen Erfahrungen, vielen neuen Freundschaften und unvergesslichen Erinnerungen. Was ich fühle, wenn ich an diese erstaunliche Zeit und unser Team denke, ist einfach nur … Dankbarkeit. Ich bin dankbar für jedes EC-TV Teammitglied und für all die großartigen Referenten und Dirigenten, die Teil dieses unglaublichen Chorereignisses waren, und dankbar für die Gelegenheit, selbst ein Teil davon zu sein.

 

HENRIKE SCHAUERTE – der Geist des Festivals

Der Geist eines Europa Cantat Festivals besteht darin, dass Sänger, Chorleiter und Chorfreunde aus Europa und der ganzen Welt zusammenkommen, um sich auszutauschen und mit Begeisterung Chormusik aufzuführen. Leute treffen sich auf der Straße; sie singen miteinander und haben viel Spaß am Singen von Chormusik bei diesen zufälligen Treffen. Das diesjährige Europa Cantat Fernsehen war natürlich nicht in der Lage, solche speziellen Momente in der persönlichen Begegnung zu schaffen, aber durch diese Mischung aus Festival-Fernsehen und Live-Veranstaltungen in Ljubljana konnten wir Brücken bauen für Chormusik, Sänger und Chorleiter, um all die schönen Erinnerungen an frühere Festivals lebendig werden zu lassen. Als Teil des Teams, das in Ljubljana arbeitete, habe ich den Geist des Festivals deutlich gespürt und glaube, dass wir unserem Publikum dieses Gefühl durch ein sehr abwechslungsreiches und engagiertes Programm vermitteln konnten, indem wir es interaktiv gestalteten, so dass es Spaß machte, im gemütlichen Sessel von Zuhause aus teilzunehmen.

 

SONJA GREINER – das Feedback

Im Cankarjev dom Kulturzentrum in Ljubljana war die Festival-»VIP Lounge«. Zuerst planten wir, dass dort wie gewöhnlich der allgemeine Treffpunkt sein würde, wo wir unsere Gäste begrüßen würden. Dann erkannten wir, dass die Festival Musikkommission und der Vorstand der European Choral Association das EC-Fernsehprogramm ansehen mussten – sie hatten sich bereit erklärt jeweils ein paar Sitzungen zu evaluieren, ebenso würden dies einige unserer Gäste wünschen. Das Programm zusammen in der Lounge anzuschauen würde mehr Spaß machen als alleine im Hotel. Eine Gruppe von Leuten traf sich normalerweise dort, und ich schloss mich ihnen manchmal an und verfolgte teilweise das Fernsehprogramm, während ich dort an meinem Laptop arbeitete. Bald brachten sie alle ihre Liederbücher mit und sangen zusammen als Gruppe beim Offenen Singen mit – das war auch ein schöneres Erlebnis als alleine vor dem Computer mitzumachen! Es war auch großartig, die PULS Seminare und die Zwischenpausen am Fernsehen zusammen anzuschauen. Man konnte sich direkt austauschen, manchmal zusammen lachen und interessante Hintergrundinformationen bekommen. Das EC-Fernsehen wurde aus dem Wunsch geboren, all denen etwas anbieten zu können, die nicht persönlcih nach Ljubljana kommen konnten. Beim Wunsch, dies auch qualitätvoll zu tun, hatten wir Riesenglück, so dass wir am Ende ein professionelles Studio mit Fernsehteam hatten und das EC-Fernsehen zum Mittelpunkt des Events wurde.

Viele Leute haben uns gefragt, ob wir dies wiederholen werden. Die Antwort ist: womöglich nicht genau so mit 70 Stunden Live-Fernsehen und mit solch einem professionellem Setup und 40 Leuten, die nur dafür arbeiten. Wird dieses Experiment ein Vermächtnis hinterlassen? Mit Sicherheit! Vielleicht in kleinerem Umfang und mit einem reduzierten Programm. Hoffentlich werden wir es nicht aus dem gleichen Grund brauchen! Die hauptsächliche Zielgruppe würde eine andere sein: nämlich nicht die angemeldeten Teilnehmer, die am Ende nicht kommen können, sondern Leute, die aus verschieden Gründen von vorneherein nicht teilnehmen können. Wir können mit einem solchen Programm neue Zielgruppen erreichen: Leute, die es sich nicht leisten können zum Festival zu reisen oder die nicht fliegen möchten oder Europa Cantat noch nicht kennen. Wir sind gespannt. Das wird jedoch nicht die Hauptaktivität in unserem Festival sein, das hoffentlich Menschen wieder persönlich an einem Ort zusammenbringen wird. Es mag dann eine Facette von vielen in einem vielfältigen Programmangebot werden.

Studio EC TV © Tamara Domjanic

ROSSANA PALIAGA ist Journalistin und Musikwissenschaftlerin. Sie studierte Literatur und Darstellende Künste an der Universität von Triest (Italien), Klavier, Operngesang und Archivistik. Seit ihrer Kindheit singt sie in Chören. Sie arbeitet in verschiedenen Bereichen der Chorkulturförderung. Sie ist Managerin des Pressebüros des slowenischen Repertory Theaters (SSG) und schreibt regelmäßig Artikel über klassische Musik für lokale, regionale und nationale Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen in Italien und Slowenien. Sie ist Chefredakteurin von Choraliter, der nationalen Zeitschrift über Chormusik von Feniarco (Nationale italienische Vereinigung von Chorverbänden).

 

Übersetzt aus dem Englischen von Barbara Schreyer, Deutschland

PDFPrint

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *