Unterschiedliche Timbres für den Gleichen Part
Von Andrea Angelini, Chorleiter und Herausgeber des ICB
In der frühen polyphonen Musik spielte die Falsett-Technik eine wichtige Rolle. Es gab sie lange, bevor sie in offiziellen Abhandlungen dargestellt oder bei musikalischen Aufführungen der Renaissance verwendet wurde. Schon im 13. Jahrhundert erwähnte Hieronymus von Mähren in seinem Discantus position vulgaris drei Arten von Stimmregistern: ‘vox pectoris’ (Bruststimme), ‘vox guttoris’ (Kehlkopfstimme) und ‘vox capitis’ (Kopfstimme). Bis zum 19. Jahrhundert konnte alles, was als ‘vox capitis’ bezeichnet wurde (später als ‘voce di testa’ bekannt), der Falsett-Technik zugeordnet werden. Während des Mittelalters vermehrte sich wegen der Aufgliederung der Tessitura in verschiedene melodische Linien das Bewusstsein für unterschiedliche Stimmregister. Man darf dabei nicht vergessen, dass die Kirchenchöre ausschließlich aus Männern bestanden, und dass dies eine Reihe von Problemen mit sich brachte, die mit dem Einsatz der männlichen Stimme über ihren normalen Umfang hinaus zusammenhingen. Die Verwendung von Knabensopranen für die höchsten Stimmlagen wurde bereits im 9. Jahrhundert erwähnt, als der Autor der Scolica Enchiriadis bemerkte, dass man bei der Aufführung von Parallelorgana „die höchsten Stimmen ohne weiteres Kindern anvertrauen kann.“ i Wenn man sich jedoch auf Bilddokumente stützt, sieht man deutlich, dass in den folgenden Jahrhunderten die höchsten Stimmen nicht von Kindern, sondern fast ausschließlich von Männern gesungen wurden, die notgedrungen zur Falsett-Stimme greifen mussten.
Mit der Verbreitung der polyphonen Musik wuchs allmählich das Bewusstsein für die unterschiedlichen Klangfarben der männlichen Stimmlagen. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts nahm zum Beispiel das Interesse am Bass rapide zu, was man teils an der Komposition getrennter Kontrapunktlinien (contratenor bassus) ablesen kann, mehr noch aber am Gewicht, das man den tieferen Stimmen beimaß, um einen neuen Klang zu erzeugen. Die Nomenklatur der Stimmen konzentrierte sich auf die griechische Vorsilbe bari– (Bass) und führte zu einer ausgefächerten Terminologie mit Begriffen wie baricanor, baripsaltes, bariclamans, barisonans und baritonans. Komponisten wie Pierre de La Rue und Johannes Ockeghem schrieben Werke mit zwei Stimmlagen unterhalb des Tenors. In der Missa Saxsonie von Nicholas Champion (1526) gibt es einen Basspart (A-D4) und darunter noch einen Part für baritonans (F-B). Es ist keineswegs überraschend, dass Ockeghem von Johannes Tinctoris als der beste Bass bezeichnet wurde, den er je gehört habe. Diese manieristische Mode für Bassstimmen hielt jedoch nicht lange an, und gegen Ende der Renaissance-Zeit wurden die männlichen Stimmen in Bassus, Tenor, Altus and Cantus oder Discantus unterteilt (bis zum Ende des 16. Jahrhunderts wurde letztgenannter Part im allgemeinen von Falsett-Stimmen übernommen).
Aus Dokumenten ist nicht ersichtlich, dass vor der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts viele Sänger als solche berühmt wurden. Selbst wenn sie die von anderen geschriebene Musik virtuos aufführten, wurden sie als bloße Ausführende betrachtet und in zeitgenössischen Dokumenten kaum erwähnt. Die ersten Sänger, die wirklich namentlich bekannt wurden, waren vom 11. bis zum 13. Jahrhundert die Troubadours. Diese Darsteller vereinten in sich die Talente eines Dichters, Komponisten und Sängers und erlangten einen gewissen Grad an Berühmtheit. Der ‘Minnesang’,[1] der von Dichter-Sängern vorgetragen wurde, die ihre Lieder ebenfalls selbst komponierten, übte bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts einen wichtigen Einfluss auf die musikalische Entwicklung der kulturellen Zentren Frankreichs, der Niederlande und Italiens aus. In einem anonymen Werk des 14. Jahrhunderts wurde Philippe de Vitry als „Blume und Gemme unter den Sängern“ beschrieben, während Paolo da Firenze sicherlich zu den zeitgenössischen Komponisten zählte, die sich als auch als „Sänger“ bezeichnen durften. Dufay, La Rue, Josquin, Obrecht, Agricola und andere, die ihr Berufsleben an verschiedenen osteuropäischen Höfen verbrachten, waren gleichzeitig Sänger und Komponisten. Als ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die italienischen Höfe – einschließlich derer von Neapel, Mailand und Florenz – damit begannen, dem Papstchor nachzueifern, wurden flämische Sänger immer begehrter. Zum ersten Mal waren ausländische Sänger an öffentlichen Aufführungen beteiligt.
Gegen Mitte des 16. Jahrhunderts zeigte sich in musikalischen Abhandlungen, wie zum Beispiel der Fontegara (Ganassi del Fontego, 1535), dem Trattado de Glosas (Diego Ortiz, 1553) und dem Compendium Musices (Adriano Petit Coclico, 1552), ein erhöhtes Interesse an der Kunst des Sängers, die vermehrt mit der Kunst der Verzierung oder Ausschmückung in Verbindung gebracht wurde.[2] Dies war vor allem eine Folge des Aufkommens der gleichen Technik bei Instrumentalisten; in der Tat beschäftigten sich die meisten Abhandlungen mit Flötisten, Viola da Gamba-Spielern und anderen Instrumentalisten. Was deutlich macht, dass die neue Technik nicht für diejenigen gedacht war, die sich ausschließlich oder hauptsächlich mit sakraler Musik beschäftigten. Obwohl die Technik der Verzierungen auch bei Motetten und anderen sakralen Kompositionen verwendet werden konnte, begannen Sänger, die neuen stilistischen Möglichkeiten vor allem bei der Aufführung weltlicher Musik, insbesondere von Madrigalen, zu erproben.
In der Geschichte des Gesangs der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ragte aber vor allem die Entdeckung und der Einsatz weiblicher Stimmen (vor allem der Soprane) heraus, sowohl als wichtige Teilnehmer bei der Aufführung bestehender Musik wie als revolutionierendes Element bei der Komposition neuer Stücke. Seit dem Mittelalter kann man nachweisen, dass Sängerinnen an der Aufführung weltlicher Musik beteiligt waren, wobei sie eher als optionales Extra denn als wesentlicher Bestandteil der Musik betrachtet wurden. An den europäischen Höfen gab es sicher eine große Anzahl von Sängerinnen und Musikerinnen, aber über ihr Mitwirken gibt es kaum schriftliche Zeugnisse: als Kurtisanen erhielten sie keinen Lohn und tauchen insofern auch nicht in zeitgenössischen Buchungsdokumenten auf. Wie dem auch sei, entwickelten seit Beginn des 16. Jahrhunderts eine Reihe von Frauen adeliger Abstammung ein ausgeprägtes Interesse an musikalischer Betätigung. Isabella d’Este, die Marchesa von Mantua (1474-1539), ist ein ausgezeichnetes Beispiel. Als aufgeschlossene Mäzenin der Künste im Allgemeinen und der Musik im Besonderen war sie auch Lautenspielerin, Sängerin und Sammlerin von Musikinstrumenten. Zu ihren Lebzeiten war die der männlichen Stimme angepasste Tessitura Grundlage der weltlichen Musik, und der Falsett-Part ging nie über D5 hinaus. Dagegen kann man an den Madrigalen der folgenden Jahre die Entdeckung des Soprans ablesen. Der aus Ferrara stammende Komponist Nicola Vicentino, der in der Mitte des 16. Jahrhunderts lebte, unterschied zwischen Stücken, die für voce mutate (d.h., ohne weibliche Stimmen) komponiert waren, und Stücken für voce piena (für Männer- und Frauenstimmen), und er schrieb Madrigale, bei denen der Sopran Noten oberhalb von G5 zu singen hatte.
Diese Entwicklung, die sich sowohl an verschiedenen Höfen Norditaliens wie auch in Rom ereignete, erreichte ihren Höhepunkt in Ferrara während der Herrschaft Alfonso d’Estes. Im Concerto delle Dame (weibliche Klangharmonie)[3] stellte er ein Ensemble virtuoser Musikerinnen zusammen, zu denen Lucrezia Bendidio, Tarquinia Molza und Laura Pavarara zählten (letzterer wurde eine beeindruckende Anzahl von Madrigalen gewidmet). Dieser neue Klang hoher, großenteils weiblicher Stimmen wurde von Claudio Monteverdi bei der Komposition seines ersten Madrigal-Buchs benutzt (1587), wo die Bassstimme während der ersten acht Takte schweigt und die Soprane und andere hohe Stimmen die Struktur des Stückes vorgeben. Der neue Stil bedeutete für alle Sänger – vom Bass bis zum Sopran – ein gehöriges Maß an virtuosismo. Diese Art improvisierter Ausschmückung führte oft zu Extremen oder Missverständnissen, und sie begegnete bald herber Kritik. In seinem an Giulio Caccini (c. 1578) gerichteten Diskurs über alte Musik und die richtige Gesangsmethode beklagte sich Giovanni de’ Bardi über Sänger, die durch ihre „…verworrenen Passagen“ die Madrigale derart ruinierten, dass nicht einmal der Komponist in der Lage wäre, sein eigenes Werk zu erkennen. In seinem El Melopeo y Maestro (1613) war von von Pietro Cerone eine ähnliche Klage zu vernehmen. Deshalb begannen einige Komponisten, selbst improvisationsartige Elemente einzufügen, wie zum Beispiel Giaches de Wert in seinem Achten, Neunten und Zehnten Madrigal-Buch, die zwischen 1586 und 1591 komponiert wurden.
Die Begeisterung für stimmliche Verzierungen fand ihren natürlichen Ausfluss in der Monodie. Ihr herausragendster Vertreter war Giulio Caccini (c. 1554-1618), der in Le Nuove Musiche einen ausgefeilten Stil für stimmliche Verzierungen – im Unterschied zu normaler Instrumentalmusik -beschrieb. 1614 fügte er in Nuove Musiche e Nuova Maniera di Scriverle (‚Neue Musik und eine neue Art, sie zu schreiben‘) eine akribisch genaue Darstellung dieser Kunst hinzu. Der Stil umfasste nicht nur ausgefeilte Verschönerungen im engeren Sinne, sondern auch den Einsatz dynamischer Tonbiegungen, die Vortragsweise und Haltung. Der wichtigste Faktor für die Zukunft der Vokalmusik war jedenfalls, dass der monodische Stil sehr auf den freien Vortrag des Stückes bedacht war, ohne jede Einengung des Rhythmus, als ob es sich um eine Art musikalischer Erzählung handele (‚gewissermaßen in harmonischem Umgang‘). Für zwei Jahrhunderte war dieser Manierismus – der erste Schritt in Richtung ‚rezitativer Stil‘ – unerlässlicher Bestandteil des Vortrags von Kantaten, Oratorien und Opern. Der rezitative Stil ist zweifellos das berühmteste Beispiel, wie durch die musikalische Praxis sowohl die formale Struktur als auch die gesamte Herangehensweise an die Vokalkomposition beeinflusst werden kann.
In der Zeit von 1575 bis 1625 fanden in der Geschichte der Vokalmusik zwei wichtige Entwicklungen statt: das Aufkommen der Kastraten und die Geburt der Oper. Die Kastratenstimme trat zum ersten Mal bedeutsam in Kirchenchören auf; die Entdeckung der hohen Frauenstimme für die weltliche Musik hatte eine aufregende neue Textur geschaffen, die die Kirche der Gegenreformation nicht außer Acht lassen konnte. Da es Frauen verwehrt war, sich aktiv an der liturgischen Musik zu beteiligen, konnte der so begehrte neue Klang nur von Kastraten geliefert werden, wobei alle moralischen Fragen beiseitegeschoben wurden. Als Erbe althergebrachter orientalischer und byzantinischer Traditionen wurde die rituelle Kastration durchgeführt, um den Gläubigen etwas ganz Außerordentliches zu bieten: eine unübertrefflich himmlische Stimme von außerirdischem, geradezu übernatürlichem Klang. Diese Entwicklung fand seit Beginn des 16. Jahrhunderts in Italien statt und fiel vor allem in der Ewigen Stadt auf fruchtbaren Boden, da dort die Weisung des Hl. Paulus (1. Korinther 14:34), dass Frauen in der Kirche zu schweigen hätten, weitestgehend beachtet wurde. Das Rom des 16. Jahrhunderts war die Blütezeit der Kastraten, denen die figuralen und polyphonen Produktionen, die zu der Zeit sehr verbreitet waren, ein perfektes musikalisches und kulturelles Umfeld boten. Ihre unnatürlichen, engelgleichen und doch kräftigen Stimmen waren wie geschaffen, um die Gemeinden während des Gottesdienstes in einen Taumel zu versetzen, was sie zu einem großartigen Vermittler zwischen Gott und den Menschen machte. Der erste Kastrat, der 1562 seinen Einzug in die berühmte päpstliche Kapelle hielt, war vermutlich Francisco Soto de Langa, 1599 gefolgt von den ersten beiden großen virtuosi Pietro Paolo Folignato und Girolamo Rossini. Der Erfolg dieser „Engel mit goldenen Stimmen“ war derart, dass Papst Clemens VIII. dafür sorgte, dass alle Choristen der Kapelle allmählich durch Kastraten ersetzt wurden. Unnötig zu sagen, dass die Praxis der Kastration – auch wenn sie nie legalisiert wurde – von der Kirche schweigend akzeptiert wurde, um die menschliche Stimme im Dienste des Allmächtigen zu formen.
Parallel dazu wurden Kastraten auch von Opernkomponisten eingesetzt, die von den speziellen Eigenheiten ihrer Stimmen einen besseren Gebrauch machten als die Komponisten sakraler Musik. Nichtsdestotrotz überlebten die Kastraten in Kirchenchören bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts: Der Kastrat Alessandro Moreschi machte eine Anzahl von Aufnahmen, bevor er sich 1913 von seiner Stellung als Leiter der Sixtinischen Kapelle zurückzog. Er starb 1922.
[1] Dichterbewegung mit einigen Ähnlichkeiten mit dem italienischen Stil Novo, der in Deutschland gegen Ende des 12. Jahrhunderts entstand. Der Minnesang beruhte auf den Werken der provenzalischen Troubadours und wurde von der lyrischen Dichtung des Marienkults beeinflusst. Der deutsche Minnesang, der vor allem in Österreich und Bayern beheimatet war, unterscheidet sich sehr vom Aristotelismus des Stil Novo und der Sinnlichkeit der Troubadours: die Dame, die nicht nur unerreichbar sondern auch mit dem Feudalherren verheiratet ist, ist nicht Objekt direkter Begierde sondern nostalgischer Liebe, einer Hingabe zur Verschmelzung zweier Seelen.
[2] ‘Ausschmückung’ oder ‘Verzierung’ bezieht sich auf eine Abfolge meist chromatischer Töne, die in fast alle Teile der Melodie eingefügt und fast immer vom Komponisten ausgewählt wurden. Die Töne der Ausschmückung sind kleiner und ohne strenge rhythmische Regeln fast improvisiert, und sie folgen der freien Interpretation des Ausführenden. Der Ursprung des entsprechenden italienischen Begriffs fioritura leitet sich wahrscheinlich vom lateinischen florificatio vocis ab, woher auch die Begriffe contrappunto fiorito und stile fiorito stammen.
[3] Gemäß zeitgenössischer Berichte beruhte der Ruhm der Gruppe auf der gekonnten Verbindung von Instrumenten und Stimmen. Die Fähigkeiten der Musikerinnen, besonders bei der Aufführung von Madrigalen, verbunden mit der physisch-gestischen Faszination, die von ihnen ausging, erklärt die Beliebtheit des Concerto delle Dame. Das Concerto Secreto wurde täglich in den Räumen von Margherita Gonzaga aufgeführt, die selbst eine ausgezeichnete Tänzerin und einigermaßen talentierte Musikerin war. Der Herzog, der auf die Aufführungen der Damen sehr stolz war, erstellte ein schriftliches Verzeichnis ihres Repertoires, und während der Konzerte, die auch für Außenstehende offen waren, pflegte er sie einigen ausgesuchten Zuhörern vorzustellen (Adligen und Intellektuellen). Trotz allem ließ er nicht zu, daß die Kompositionen gedruckt wurden, vielleicht um den Schleier des Geheimnisses zu wahren, der das Concerto delle Dame bald umgab. Beim Tod Alfonso II d’Estes verschwanden die Verzeichnisse mit Ausnahme der Werke von Luzzasco Luzzaschi allerdings, was es unmöglich macht herauszufinden, wie das Repertoire der Gruppe wirklich aussah,.
Andrea Angelini studierte Klavier und Chorleitung. Als Leiter mehrere Chöre und Kammermusikgruppen führt er ein intensives künstlerisches und berufliches Leben. Seine spezielle Kompetenz auf dem Gebiet der Renaissancemusik nutzt er für Workshops und Vorträge in der ganzen Welt, und er wird immer wieder als Juror zu den wichtigsten Chorwettbewerben eingeladen. Zusammen mit Peter Phillips unterrichtet er seit Jahren beim Internationalen Kurs für Chorsänger und Chorleiter in Rimini. Er ist künstlerischer Leiter des Voce nei Chiostri Chorfestivals und der Rimini International Choral Competition. Seit 2009 ist er auch als Herausgeber des ICB tätig. Seine Kompositionen wurden von Gelber-Hund, Eurarte, Canticanova und Ferrimontana veröffentlicht. Email: aangelini@ifcm.net
Aus dem Englischen übersetzt von Reinhard Kißler, Deutschland
Edited by Gillian Forlivesi Heywood, Italy