Five Music Rights – More Than Ever! [Fünf Musikrechte – mehr denn je!]

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Silja Fischer,
Generalsekretärin des Internationalen Musikrats (IMC)

Die COVID-19-Krise hat Mängel in der Welt der Künste und Kultur offengelegt – Schwachstellen, die bereits vorhanden waren, aber von der Krise verschlimmert wurden. Alle künstlerischen Aktivitäten, von Workshops über Residenzprogramme bis zu Liveaufführungen, litten als Ergebnis eines Lockdowns oder anderer einschränkender Maßnahmen. Unter professionellen Künstlern gibt es eine weitverbreitete Furcht, dass, je länger die Wiederherstellung hinausgezögert wird, desto fortdauernder diese Aktivitäten betroffen sein werden.

Lassen wir uns einen Blick darauf werfen, wie die Grundwerte des Internationalen Musikrates (IMC), eingebettet in die Fünf Musikrechte, sich in der Krise aufrechterhalten lassen und wie die Reaktion sein soll.

 

Das Recht für alle Kinder und Erwachsenen, sich in aller Freiheit musikalisch auszudrücken

Dieses Recht spiegelt die ausdrücklichen Bestimmungen wider, welche die Freiheit von künstlerischem Ausdruck und Kreativität schützen, wie sie in Artikel 15 der Internationalen Übereinkunft über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zu finden sind, ebenso in Artikel 19 der Internationalen Übereinkunft über zivile und politische Rechte.

Im Mai 2020 hat der IMC seine tiefe Sorge über die Zunahme von weltweiten Angriffen auf die Kunstfreiheit ausgedrückt, wie sie im jüngsten Bericht von Freemuse „Der Zustand künstlerischer Freiheit 2020“ dokumentiert wird; dieser bietet für das Jahr 2019 eine gründliche Analyse von 711 Übergriffen auf die künstlerische Freiheit in 93 Ländern. Wir sind weiterhin alarmiert durch Berichte von Kollegen aus aller Welt, die auf die Verschärfung der Lage durch die Covid-19-Krise hinweisen, welche durch den weltweiten nationalen Populismus weiterhin Äußerungen beschränkt und Notfallverfahren beschließt, die manchmal als Mittel dienen, andersdenkende Stimmen verstummen zu lassen.

Die durch die Pandemie hervorgerufene ungewöhnliche Situation sollte und wird unsere Aufmerksamkeit nicht von der brutalen Realität ablenken, dass Künstler in einer Welt, die von Macht- und Geldoligarchien beherrscht wird, extrem verwundbar sind.

 

Das Recht für alle Kinder und Erwachsenen, musikalische Sprachen und Fähigkeiten zu erlernen

Die Krise betraf diejenigen, die unterrichten und diejenigen, die lernen, gleichermaßen – in Klassenzimmern, Musikschulen und höheren Bildungseinrichtungen.

Der herausfordernde Übergang zum Online-Unterricht wurde von Lehrenden auf verschiedenen Ebenen gemeistert, aber mit gleicher Bereitschaft und Begeisterung. Wie bei allem, das zum digitalen Bereich gehört, wirkten sich Probleme wie digitale Kompetenz, Zugang zu Hardware und Software, Breitbandverfügbarkeit usw. auf die Fähigkeit von Lehrenden und Lernenden aus, sich auf die Situation einzustellen.

Vom IMC-Mitglied Music Crossroads Academy Zimbabwe erfuhren wir, dass sie während des Lockdowns Lehrprogramme im WhatsApp-Format anboten, einige Studenten aber wegen der Unfähigkeit zu folgen ausstiegen. Sie öffneten aber zu ihrer Erleichterung die Türen ihrer Schule wieder zum direkten Unterricht nach dem ersten Lockdown.

In vielen Ländern waren Musikstunden unter den ersten, die im Jahr 2020 aus den Schulprogrammen gestrichen wurden, als die Schulen anfingen sich wieder zu öffnen. Auf einmal war Musikmachen mit einem Stigma behaftet. Viele wissenschaftliche Studien versuchten Antworten auf die zahlreichen Fragen zu geben, die sich ergaben, als Lehrende und Lernende in die Übungsräume zurückkehren wollten. Dank der Spendenaktionen seines Mitglieds, dem nationalen Musikrat der USA, war der IMC in der Lage, sich finanziell an einer Studie zu beteiligen, die von 125 Mitgliedern einer internationalen Vereinigung darstellender Künste ins Leben gerufen wurde, um Aerosolanteile zu untersuchen, die von Bläsern, Sängern und sogar Schauspielern erzeugt wurden, und wie schnell sich diese Aerosolanteile in einem Raum ansammeln. Während die Erkenntnisse einigen Gruppenlehraktivitäten zur Wiederaufnahme verholfen zu haben scheinen, ist die nächste Frage, wie Zuhörer wieder zurück in die Aufführungsstätten gelassen werden. Dies bringt uns zum nächsten Recht.

 

Das Recht für alle Kinder und Erwachsenen, Zugang zu musikalischem Engagement durch Teilnahme, Hören, schöpferischem Tun und Information zu haben

Die Covid-19-Pandemie hat den Übergang zu digitalen Technologien weit über die ehrgeizigsten Perspektiven hinaus beschleunigt. Der Ausbau von 5G, künstlicher Intelligenz und großen Datenmengen wird zunehmend mehr Veränderungen und Umbrüche in den kommenden fünf Jahren erzeugen als jede andere Technologie in den letzten dreißig Jahren. Schon im Mai 2020 schätzte McKinsey Digital „Der Wiederaufschwung nach Covid-19 wird digital sein“ und teilte einen Plan für die nächsten 90 Tage nach dieser Entdeckung mit.

Der weltweite Lockdown hat unser gesellschaftliches Miteinander und unseren Kulturkonsum fast ganz in den digitalen Raum getrieben. Der kulturelle und kreative Sektor ist so zum Versuchsgelände für Sonderfälle und Beschränkungen gegenüber der Ordnung geistigen Eigentums geworden, um dort Zugang zu erhalten – wenn auch nur in einigen Verhältnissen und Lagen – zur Schaffung von Inhalt. Das Streamen von und der Zugang zu kreativem Inhalt ist bei der Behandlung der negativen Bedingungen des Lockdowns als Antwort auf die Covid-19-Krise unverzichtbar geworden. Der Zugriff zum Internet ist zu einer wesentlichen Aufgabe geworden trotz der Tatsache, dass ungefähr 46% der Weltbevölkerung keinen Internetanschluss hat.

Dies vorausgeschickt, müssen wir eingestehen, dass nicht alle künstlerischen Äußerungen zum Streamen geeignet sind und dass die „virtuellen Chöre“ nur eine Illusion gemeinschaftlichen Singens sind, was die Leser des International Choral Bulletin wohl als Erste bestätigen werden.

 

Das Recht für alle Musiker, ihr Künstlertum ,mit angemessenen Mitteln ausgestattet, in allen Medien zu entwickeln und mitzuteilen

Gemäß einer UNESCO-Veröffentlichung1 war die verbreitetste Maßnahme von Regierungen (abgesehen von finanzieller Unterstützung) die Schaffung von gebührenpflichtigen Plattformen zum Streamen künstlerischer Inhalte. Die Verfasser deuten an, dass öffentliche Instanzen vielleicht unbewusst durch die finanzielle Unterstützung dieser Plattformen praktisch das getan haben, was viele Analytiker als Antwort auf die wachsende Vorherrschaft vieler multinationaler Onlineanbieter mit ihren undurchsichtigen Algorithmen vorschlugen: ein öffentliches Portal für den Zugang zu nationalen Inhalten aufzurichten. Die Frage ist, ob diese Maßnahmen tatsächlich eine Umsetzung zur digitalen Welt darstellen, wie sie von öffentlichen Einrichtungen wie Landestheatern oder Rundfunkübertragungen von großen Festivals an Feiertagen vorgenommen werden.

Regierungen haben Pläne vorangetrieben, Breitband-Internet in ländlichen und abgelegenen Regionen zu entwickeln, das besonders für die Wirtschaft und das Erziehungssystem unerlässlich geworden ist. Viele Künstler in aller Welt haben sich freiwillig dazu entschlossen, während der Krise Zutritt zu weiten Bereichen kreativen Inhalts zu ermöglichen. Wie die Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO)2 betont, ist es allerdings wichtig, dafür zu sorgen, dass diese Arten von Beweglichkeit in Zusammenhang mit der Covid-19-Krise auf den nachgewiesenen Zugangsmangel zielen und auf die Zielsetzung beschränkt sind, diesen Zugangsmangel für die Zeit der Krise zu beheben. Denn Kunst ist Arbeit und muss vergütet werden.

 

Das Recht für alle musikalischen Künstler auf gerechte Anerkennung und Vergütung ihrer Arbeit

Die Krise hat Lücken in der sozialen und wirtschaftlichen Absicherung aufgedeckt, die für diejenigen im Zentrum der kulturellen und kreativen Industrie zugänglich sind, Künstler und Kulturschaffende, oft Freiberufler mit zahlreichen Arbeitgebern, jetzt eine Belastung für die bereits existierenden Systeme.

Die Krise hat auch die digitale Umwandlung beschleunigt und damit echte Fragen zur finanziellen Machbarkeit (ohne staatliche Hilfe) kultureller Vorhaben, der Medien und gemeinnütziger Organisationen, sowie zu den Arbeitsbedingungen von Künstlern und Kulturschaffenden aufgeworfen.

Wir haben festgestellt, dass die Maßnahmen, die zur Bewältigung der Krise eingeführt wurden, meist von zweierlei Art sind: entweder bezwecken sie auf aktuelle

Bedürfnisse einzugehen, wie etwa Finanzhilfen, Schadenersatz für Ausfälle, Beiträge zur Sozialversicherung, Ferien und beschleunigte Hilfszahlungen – oder sie sind dieselben, wie sie in „normalen Zeiten“ vorkommen, aber mit veränderten Parametern, um sich an die Umstände anzupassen, wie zum Beispiel Hilfe für die Entwicklung von Fertigkeiten, Investition in die Infrastruktur, Marktentwicklung usw.  In sehr großem Maße sind diese Interventionsmaßnahmen nicht spezifisch für die Künste und die kulturellen Bereiche.

Wir haben allerdings auch beobachtet, dass viele Ebenen der Regierung – national, regional und lokal – den Schöpfern, Vereinigungen und Vorhaben zu Hilfe gekommen sind, und dabei die grundlegende Rolle dieser Schöpfer und Institutionen zum Wohlbefinden in diesen Gemeinschaften anerkannten, eine Rolle, die während des Lockdown in noch schärferen Fokus geraten ist.

Vor allem in Afrika und Lateinamerika haben sich Maßnahmen entwickelt, um Grundbedürfnisse wie Essenslieferung oder Angebote sozialer Unterstützung für die ärmsten Haushalte anzubieten, mit dem Hintergedanken, dass diese Vorkehrungen die vielen Künstler und Kreativen im informellen Sektor begünstigen. Gewisse Verwertungsgesellschaften machten sich auch schnell daran, Lizenzgebühren im Voraus an Autoren, Komponisten und Ausführende zu zahlen, von denen manche in die Lücke im Sicherheitsnetz der Regierungshilfe fallen, weil sie die Kriterien für die Hilfsprogramme für Freiberufler oder kleine bzw. mittlere Unternehmen nicht erfüllen.

 

Zum Abschluss …

Die Kunst- und Kulturgemeinschaft ist ein verletzliches Ökosystem, dem Regierungen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte von beharrlicher und methodischer Hilfe durch Kulturpolitik und größere öffentliche Unterstützung in vielen Ländern angedeihen ließen. All diese Bemühungen könnten umsonst gewesen sein, wenn man jetzt nichts unternimmt. Künstler werden ihre Talente nicht mehr ausüben, kreative Menschen ihr Gewerbe nicht mehr betreiben können. Große Teile der Wertschöpfungskette würden untergehen (denken wir an Konzerthäuser), was einen verheerenden Effekt hätte auf das Recht des Publikums, sowohl am Kulturleben wie an der Verschiedenheit künstlerischen Ausdrucks teilzunehmen.

Angesichts der Globalisierung der Märkte und des digitalen Wandels sind die kulturellen und kreativen Branchen als Ganzes ohne Alternative: sie müssen sich anpassen, indem sie neue Fertigkeiten, Verfahren und Geschäftsmodelle entwickeln.

Mehr als je müssen wir im Bemühen zusammenstehen, ein gesundes globales musikalisches Ökosystem und eine Welt zu erreichen, in der jedes Kind, jeder Erwachsene lernen, erfahren, erschaffen, aufführen und sich selbst durch Musik ausdrücken kann – eine Welt, in der Künstler Anerkennung und eine angemessene Vergütung erhalten.

 

Silja Fischer wuchs in Ostdeutschland auf und studierte in Berlin, Moskau und Hamburg. 1993 kam sie zum Generalsekretariat des Internationalen Musikrats und nahm dort mehrere verschiedene Stellen ein, bis sie 2009 zur Generalsekretärin ernannt wurde. In dieser Funktion ist sie verantwortlich für die offizielle Repräsentation, Fragen der Kulturpolitik, das Mitgliedschaftsverhältnis, Spendenkampagnen und die Programmumsetzung. Seitdem der Internationale Musikrat als NGO offizieller Partner der UNESCO ist, gewährleistet Silja außerdem die Verbindung zum UNESCO-Sekretariat und zu den diplomatischen Vertretungen von Mitgliedsländern der UNESCO. Silja Fischer glaubt fest an strategische Partnerschaften für wirksame und leistungsfähige anwaltschaftliche Arbeit. Neben ihrer Leidenschaft für Musik und ihrer Flexibilität liebt sie es, Gegenden zu entdecken, Menschen zu treffen und miteinander zu verbinden, Wein zu trinken, sich am Seewind und an der Natur zu erfreuen.

 

 

Übersetzt aus dem Englischen von Klaus L Neumann (Deutschland)

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