Die Vokaltranskriptionen von Clytus Gottwald  

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Sebastian Herrmann, Chorleiter und Pädagoge, Deutschland

In der Szene der europäischen Vokalmusik haben die Transkriptionen für Chor a cappella von Clytus Gottwald mittlerweile einen hohen Stellenwert erreicht und werden von Chören mit großer Begeisterung aufgeführt. Gottwald transkribiert instrumentale, orchestrale und kammermusikalische Werke überwiegend aus den Epochen der Spätromantik und des Impressionismus für Chor a cappella und schafft so einen neuen Zugang zu dieser Musik.

Bekannte Transkriptionen für Chor a cappella sind beispielsweise Gustav Mahlers Urlicht aus der 2. Sinfonie, das Orchesterlied Ich bin der Welt abhanden gekommen oder der 5. Satz Louange à l’Éternité de Jésus aus dem Quartett Quatuor pour la fin du temps von Olivier Messiaen.           
Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff „Transkription“ vor allem von Franz Liszt geprägt, der für das Klavier eine große Bandbreite an Bearbeitungen von Liedern, Orchester- und Opernliteratur vorlegte. Sänger- und Orchesterpart werden auf das Klavier übertragen und es entfallen hier die Klangcharakteristika der verschiedenen Orchesterinstrumente und vor allem der Text. Gottwalds Transkriptionen gehen nun einen neuen Weg, indem Instrumentalmusik auf mehrstimmigen Chor übertragen wird, wobei ebenfalls der Klang der Orchesterinstrumente entfällt, allerdings der Musik dafür ein Text gegeben wird. Einige der Transkriptionen wurden von deutschen Ensembles, wie dem Kammerchor Stuttgart (Frieder Bernius), KammerChor Saarbrücken (Georg Grün) und dem SWR Vokalensemble (Marcus Creed) auf CD eingesungen und stellen bei den hohen gesangstechnischen Anforderungen der Werke beeindruckende Referenzaufnahmen dar.

 

Geschichte der Transkriptionen

„Utopie setzt Zukunft voraus.“[1] Dieses Zitat von Clytus Gottwald aus einem Beitrag für das Jahresprogramm der Saison 2004/2005 des SWR Vokalensembles Stuttgart beschreibt die Intention, die hinter den Transkriptionen steht: Der Chormusik soll eine Zukunft geschaffen werden. Die Grundlage, eine quasi neue Gattung der Chormusik zu schaffen, bildet Gottwalds historische Sicht auf die Chormusik ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Die Chormusik fand im 19. Jahrhundert in der Bewegung des Historismus im a cappella-Bereich ihren Höhepunkt u.a. bei Johannes Brahms, und Chöre wurden ansonsten, wie z.B. in England üblich, überwiegend als Teil von Oratorienaufführungen eingesetzt.[2] Die a cappella-Chormusik von Richard Strauss Gesänge op. 34  Der Abend und Hymne (1897) waren im ausgehenden 19. Jahrhundert in dieser Hinsicht ein wirkliches Novum, da ein Komponist den Versuch unternahm, die Technik der Instrumentierung von Orchestern auf Chor zu übertragen. Nach Gottwald fanden diese Werke dann im Opus der Komponisten der folgenden Jahrzehnte keinen Widerhall und erst mit Ligetis Lux aeterna (1966) wurde diese Art zu Komponieren wieder angewendet. Die Epoche der Renaissance gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang, denn Gottwald entdeckte die verlorengegangene Art, Singstimmen wie Orchesterstimmen zu behandeln, bereits in der Zeit der klassischen Vokalpolyphonie bei dem französischen Komponisten Antoine Brumel in einer 12-stimmigen a-cappella-Messe Et ecce terrae motus, die er als „sinfonisch“ bezeichnet.[3] Die 40-stimmige Motette Spem in alium (um 1570) von Thomas Tallis rechnet er ebenfalls zu dieser Art der Klangkomposition.[4]

Gottwald versucht nun den von Richard Strauss verfolgten Ansatz fortzuführen, den Chor aus der Abhängigkeit des Orchesters loszulösen,[5] und den musikalischen und technischen Stand von Berufschören und ambitionierter Laienchöre weiterzuentwickeln, sowie diese mit einer Literatur aus der Spätromantik und dem Impressionismus in Kontakt zu bringen.[6] Die Initialzündung für die Transkriptionen ergab sich im Jahr 1976, als Gottwald als Redakteur beim damaligen Süddeutschen Rundfunk eine Sendung zu Pierre Boulez machte.[7] In eines der Ateliers brachte Boulez einige Werke mit, darunter Maurice Ravels Zyklus Poèmes de Stéphane Mallarmé, aus dem er das erste Stück Soupir hörte, woraufhin er den Gedanken fasste, dieses Werk in ein Chorstück umzuarbeiten. Den Beginn seiner Transkriptionstätigkeit bezeichnet Gottwald als „mehr oder minder […] zufällig.“[8]  Zusammenfassend treiben folgende Aspekte Clytus Gottwalds Arbeit voran: Die Repertoireerweiterung von Chören durch Literatur der deutschen Spätromantik, die in der Chormusik a-cappella nur sporadisch vertreten ist, und ein musikpädagogischer Auftrag, in dem Sänger wieder lernen sollen, komplexe Akkorde zu hören und diese zu intonieren. Laut Gottwald soll die „sinfonische Differenzierung des Klanges nicht an der Grenze des Instrumentalen halt mach[en], sondern im Chor zu einer eigenen Schönheit weitergedacht werden.“[9] Darüber hinaus  sollen die Werke auch Komponisten anregen, „wieder für Chor zu schreiben – unter dem von Heinz Holliger formulierten Motto Utopie Chorklang, die – wenn man sie in Notentext umsetzt –, die Zukunft der Chormusik sichern würde.“[10]

Übertragungstechnik

Gottwald übertrug, ähnlich zu den bereits genannten Klaviertranskriptionen von Liszt, nicht sklavisch Ton für Ton auf einen Chor, sondern seine Transkriptionen sind durchaus als Paraphrase oder Fantasie zu verstehen.[11] Das instrumentale Originalwerk wird in ein neues klangliches Milieu transkribiert und muss von Gottwald auch aus technischen Gründen diesem angepasst werden, da ein Chor einen deutlich begrenzteren Ambitus als ein Orchester oder ein Klavier besitzt. Der Chor besteht meist aus 16 Stimmen, aber es gibt in Gottwalds Œuvre eine vielfältige Palette an Besetzungen, die sich zwischen 4 und 19 Stimmen bewegen. Darüber hinaus gibt es auch Besetzungen für Doppelchor, Männerchor mit Alt oder Frauenchor. Gottwald zieht für seine Transkriptionen überwiegend ruhige Werke vor, deren Musik schon eine gewisse Kantabilität eignet. Choralartige Kompositionen, wie beispielsweise Mahlers Urlicht aus der 2. Sinfonie bieten Gottwald ideale Ausgangsbedingungen für das Anlegen seiner Transkription. Ein ruhiges Tempo ist allerdings nicht die Grundvoraussetzung und es gibt in seinem Werk auch sehr bewegte Bearbeitungen, wie die von Beethovens Lied op. 75 Nr. 2 Neue Liebe, neues Leben oder die des 5. Satzes aus Mahlers 3. Sinfonie Es sungen drei Engel.

Die Frage von Pierre Boulez an Gottwald: „Was instrumentierst Du zur Zeit?“,[12] bezogen auf seine Vokaltranskriptionen, lässt sich im ersten Moment widersprüchlich verstehen und er wählte diese Formulierung, da der entsprechende Begriff für den Chor fehlt. Bei der Übertragung einer instrumentalen Vorlage in ein vokales Umfeld gibt es zur Instrumentierung bzw. Orchestrierung gewisse parallele Fragestellungen. Die Stimme besitzt als das natürlichste aller „Instrumente“ eine große Wandlungsfähigkeit und Individualität, sowie einen großen Reichtum an verschiedenen Klangfarben. Allerdings liegt in der Stimme auch eine der Hauptschwierigkeiten beim Transkribieren von Instrumentalmusik auf Chor, und dies ist der Umgang mit dem begrenzten Ambitus. Es verhält sich ähnlich wie bei der Übertragung eines Klavierstücks auf Orchester, bei der man sich beispielsweise fragen muss, ob eine Linie besser mit einer Violine oder einem Violoncello zu realisieren sei oder auch ob die Instrumente kombiniert werden können. Dabei muss beachtet werden, dass Extrembereiche um das Contra-C und das f3 nur selten eingesetzt werden können, da vor allem die extreme Höhe für eine Sängerin bzw. einen Sänger trotz einer professionellen Technik sehr fordernd ist. Dies kann in Proben nur begrenzt abgerufen werden, da die Stimme durch übermäßige Beanspruchung einem ständigen Verbrauch ausgeliefert ist. Was den Extrembereich der Tiefe angeht, so gibt es nur wenige Bässe, die dies überzeugend und in einer angemessenen Lautstärke darstellen können.

Gemäß seinem formulierten Ziel, „das Instrument Chor nicht allein technisch, sondern auch musikalisch weiterzuführen“,[13] achtet Gottwald bei der Ausformung seiner Stimmen stets darauf, dass eine Selbstständigkeit und Autonomie für die einzelnen Chorstimmen gegeben sind. Dies lässt den Chorsatz farbiger werden und jede/jeder singt ihren/seinen „Part mit einer gewissen Selbstständigkeit und für das Ganze konstitutiv“.[14] Um den Klang farbig und auch beweglich zu halten, achtet er darauf „an Stellen mit einem kollektiven [fortissimo]-Ausbruch nicht einen Klang Note gegen Note [zu] setze[n], sondern dem Klang durch Bewegung in den Mittelstimmen eine spezifische Färbung zu geben.“[15] Gottwald nutzt gelegentlich auch gewisse Spezialeffekte, um die relative Obertonarmut der Stimme auszugleichen,[16] wie in der Vokaltranskription von Ravels Soupir, in der er die Tenöre den letzten Akkord zwei Oktaven tiefer pfeifen lässt, damit es klingt, als sei es im hohen Falsett gesungen. Diese Art der Spezialeffekte ist allerdings eher die Ausnahme. Eine Praxis, die regelmäßiger zum Einsatz kommt, ist die strukturelle Nachbildung der Obertonreihe, um tiefe Grundtöne als Kombinationstöne erscheinen zu lassen. Gottwald entwickelte diese Technik weiter und schreibt z.B. in seiner Bearbeitung von Messiaens Louange à l’Éternité de Jésus an bestimmten Stellen Quartsextakkorde, bestehend aus dem 2., 3. und 4. Oberton, um den Grundton als Kombinationston erklingen zu lassen.

 

Textierung

Bezüglich der ausgewählten Texte achtet Gottwald darauf, diese passend zum Charakter der Musik auszuwählen, und versucht mit ihnen der Musik einen neuen Zugang zu schaffen. Er beschränkt sich bei seiner Auswahl nicht ausschließlich auf einzelne Texte, sondern kombiniert diese durchaus auch mit anderen literarischen Quellen. Beispielsweise bei der Bearbeitung von Mahlers Urlicht gestaltet Gottwald mit der Textierung des textlosen, choralartigen Anfangs mit zwei Zeilen aus einem Gedicht von Annette von Droste-Hülshoff „Selig sind, die Trauer leiden. Und ihr Brot mit Tränen tränken“ einen Einstieg zur Musik und zum Text aus Des Knaben Wunderhorn. Gottwald öffnet mit dieser Textierung weitere Ebenen, die mit der Musik und dem Wunderhorn-Text im Zusammenhang stehen. Er begründet die Legitimation auch mit der geschaffenen formalen Klammer aus „Selig sind…“ und „…selig Leben“.[17] Ein weiteres Beispiel für eine gelungene Textierung ist die des Adagiettos aus Mahlers 5. Sinfonie, das mit dem Gedicht Im Abendrot von Joseph von Eichendorff textiert wurde.

 

Aufführungspraxis

Bei der Betrachtung des hohen technischen und musikalischen Anspruchs von Gottwalds Transkriptionen ist zu hinterfragen, was ein adäquater Klangkörper ist, um die Transkriptionen darzustellen. Befragungen der Dirigenten Frieder Bernius, Michael Alber und Manfred Schreier ergaben, dass die Werke durchaus mit einem semi-professionellen Chor realisierbar sind. Allerdings ist neben dem extremen Ambitus auch die Solofähigkeit einer Stimme in einer sehr polyphonen Textur von hoher Bedeutung. Es müssen in den meist sehr lang dauernden Stücken oft ausgedehnte Phrasen gesungen werden, bei denen der Atem eines Berufssängers länger ausreicht als der eines Laien. Mit diesen Voraussetzungen, die für die qualitätsvolle Ausführung benötigt werden, sind die Vokaltranskriptionen nicht unbedingt für reine Laienchöre geeignet. Unabhängig von der genauen Ensemblekonstitution und der Ausbildung der einzelnen Sängerinnen und Sänger beschreibt Prof. Frieder Bernius, Leiter des Kammerchors Stuttgart, die Voraussetzung eines Chores sehr knapp: „Das Ensemble muss was vom Singen verstehen. Ohne Gesangstechnik kann man das nicht machen.“

 

Vergangenheit und Zukunft

Clytus Gottwald ist ein universeller Musiker, der sich neben der Musik immer für deren Hintergründe sowie für musikwissenschaftliche, theologische und soziologische Themen interessiert. In seiner langjährigen Tätigkeit beschäftigte er sich mit der gesamten Bandbreite der Vokalmusik, angefangen in der Renaissance bis hin zu zahlreichen Uraufführungen zeitgenössischer Werke durch die Schola Cantorum Stuttgart unter seiner Leitung. Mit seinen Transkriptionen hat er ein quasi neues Genre in der Chorliteratur geschaffen und der Chormusikszene eine Öffnung in einen Bereich des 19. und 20. Jahrhunderts ermöglicht, in dem es sonst keine adäquate Literatur mit einer Klangsprache der Spätromantik und des Impressionismus auf einem solch anspruchsvollen Niveau gegeben hätte. Es bleibt zu hoffen, dass sich noch mehr Chöre an diese Werke wagen, um diese vielfältige Klangwelt einem noch größeren Publikum zugänglich zu machen. Clytus Gottwalds Bewusstsein in der Verbindung der Tradition mit einer unersättlichen Neugierde und dem Mut in der Erforschung bisher unbekannter klanglicher Welten, sollte man sich als SängerIn, ChordirigentIn und KomponistIn jedenfalls zum Maßstab nehmen.

 

© Beate Armbruster

Sebastian Herrmann lebt in Stuttgart und ist als Chorleiter und Sänger tätig. Er ist künstlerischer Leiter des Chores der Universität Stuttgart-Hohenheim, des Kammerchores Oberaspach und musikalischer Assistent beim Knabenchor collegium iuvenum Stuttgart. Weitere Engagements als Chorleiter führten ihn u. a. an die Junge Oper der Staatsoper Stuttgart. Er studierte zunächst evangelische Kirchenmusik an der Hochschule für Kirchenmusik Tübingen und führt derzeit seine Ausbildung im Rahmen eines Masters in Chordirigieren an der Musikhochschule Trossingen bei Prof. Michael Alber fort. Zudem studiert er Lehramt Musik an der Musikhochschule Stuttgart. Als Tenor singt er in verschiedenen Chören, wie dem Kammerchor Stuttgart und dem Deutschen Bundesjugendchor. Außerdem engagiert er sich als Mitglied des Bundesfachausschusses Zukunftswerkstatt im Deutschen Musikrat. www.sebastianherrmann.org

 

[1] Liska, Ewald und Aurbacher, Hanna (Hrsg.), Hommage à Clytus Gottwald. Erinnerungen, Briefe, Kompositionen zum 80. Geburtstag, Carus-Verlag, Stuttgart 2005, S. 61.
[2] Gottwald, Clytus, „Transkriptionen als neue Chormusik“, in: Günter Graulich. Chorleiter und Musikverleger. Festschrift zum 90. Geburtstag, hrsg. von Marja von Bargen, Johannes Graulich, Barbara Mohn, Hans Ryschawy und Uwe Wolf, Carus-Verlag, Stuttgart 2016, S. 25.
[3] Gottwald, Clytus, Hörgeschichte der Chormusik im 20. Jahrhundert, Carus-Verlag, Stuttgart 2009, S. 35.
[4] Ebd.
[5] Gottwald, Clytus, „Transkriptionen als neue Chormusik“, S. 25.
[6] Gottwald, Clytus, Hörgeschichte, S. 35.
[7] Gottwald, Clytus, Interview im CD-Booklet für Clytus Gottwald. Alma und Gustav Mahler, SWR Vokalensemble, Marcus Creed, Carus-Verlag 83.370/00, Stuttgart 2012.
[8] Vgl. Gottwald, Clytus, CD-Booklet für Clytus Gottwald. Alma und Gustav Mahler.
[9] Gottwald, Clytus, Hörgeschichte, S. 35.
[10] Gottwald, Clytus, Rückblick auf den Fortschritt. Eine Autobiographie, Carus-Verlag, Stuttgart 2009, S. 68.
[11] Gottwald, Clytus, „Transkriptionen als neue Chormusik“, S. 25.
[12] Gottwald, Clytus, Hörgeschichte, S. 35.
[13] Gottwald, Clytus, Hörgeschichte, S. 35.
[14] Gottwald, Clytus, „Transkriptionen als neue Chormusik“, S. 26.
[15] Ebd.
[16] Vgl. Gottwald, Clytus, Werkeinführung im CD-Booklet für Clytus Gottwald. Vokalbearbeitungen, KammerChor Saarbrücken, Georg Grün, Carus-Verlag 83.182, Stuttgart 2005.
[17] Vgl. Gottwald, Clytus, Nachbemerkungen zu Urlicht, Chorpartitur, Carus-Verlag, Stuttgart 2009.

 

 

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1 Comment

  1. I am fascinated by this reading because I am a black South African woman, a pensioner currently working on my Masters dissertation on African Choral music composers of the 20thC in the Eastern Cape in South Africa. Not much has been written about the amazing composers whose works were gathered and recorded by the late Dr Yvonne Huskisson. Historians and Ethnomusicologists have openly exclaimed that African voices are naturally powerful and seldom need instrumental accompaniment but do anyway, because even traditional music evolves. It is my wish in my recommendations to stress the need for young academics to heed this clarion call and study the works of these composers.

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