Reden wir über Methoden

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Die Probe

 

Cristian Grases

Komponist und Chorleiter

 

“Während der Chorgesang das Publikum oder die Gemeinde in einer öffentlichen Aufführung erreicht, findet die chorische Erfahrung ihre eigentliche Identität während der regelmäßigen Proben; einfacher gesagt ist die Probe der Ort chorischer Erfahrung.“1

 

Dieses Zitat aus Ray Robinsons und Allen Winolds Buch The Choral Experience (Die chorische Erfahrung) hilft uns zu verstehen, dass die Probe viel mehr ist als die Zeit, in der Noten erlernt, technische Fragen gelöst und Aufführungen ausgefeilt werden. Es ist die Gelegenheit, bei der Chorleiter und Sänger ein Werk proben mit dem Ziel, den wahren Absichten des Komponisten ein wenig näher zu kommen. Mit anderen Worten, wie Robinson und Winold es ausdrückten, „…gibt es keine Proben, wie wir sie kennen, sondern „Aufführungen“ des Werks‚ in progress‘“2. Auf diese Weise wird die Probe zum Zweck (wie auch zum Mittel), und die Sänger werden zum Publikum.

 

Guangzhou Children's Palace Choir at the International Choir Contest Tolosa 2011, Spain
Guangzhou Children’s Palace Choir at the International Choir Contest Tolosa 2011, Spain

 

Als Chorleiter sind wir ständig bemüht, unsere Probenzeit so effizient wie möglich zu gestalten, damit wir das angestrebte musikalische Ergebnis so gut und so schnell wie möglich erreichen. Ein Chorleiter wird erfolgreiche Proben durchführen, wenn er gewisse Grundsätze beachtet. Ich habe diese in vier übergeordnete Kategorien eingeteilt: Planung, sowie verbale Kommunikation, Musikalisches und Persönliches.

 

Planung

  • Planen Sie Ihre Probe rechtzeitig. In die Probe zu gehen ohne eine klare Vorstellung von dem zu haben, was man erreichen will, ist inakzeptabel. Ein genauer Plan ist überaus hilfreich, und er sollte die Liste der Werke enthalten, die man einstudieren, und die Reihenfolge, in der man sie proben will, sowie die voraussichtliche Zeit, die man für jeden Teilabschnitt benötigt. Er sollte auch Informationen zu den Stellen der Partitur enthalten, die man proben will und zu dem, was man in der Probe erreichen will. Das kann so verschiedene Aspekte umfassen wie das Kennenlernen der Noten, das Erlangen der richtigen Artikulation, die eigentliche Arbeit an der Diktion, das Überprüfen von Intonation, Phrasierung und Ausdruck, oder einfach einen Durchgang durchs Programm, wenn das Konzert kurz bevorsteht. Man kann eine Probe auf verschiedene Weise durchführen, und es ist sicher nützlich, sie nicht immer gleich zu gestalten. So vermeidet man Langeweile und kann die Energie des Chores stets aufs Neue mobilisieren. Hier ein paar Ideen, wie man einen Probenplan erstellen kann. Sie können eine davon herausgreifen oder sie in vielfältiger Form kombinieren, je nachdem, was Sie an dem Tag erreichen wollen.
  • Arbeiten Sie mit Kontrasten. Was bedeutet, zwischen schwungvollen und langsamen Liedern zu wechseln, zwischen Legato und artikuliertem Gesang, zwischen schwierigen und einfachen Stücken usw., um die Aufmerksamkeit und Konzentration des Chores zu erhöhen und den musikalischen Fortschritt zu optimieren.
  • Benutzen Sie die Goldene Zahl (j= 1.618). Im Verlauf der Probe nehmen Konzentration und Aufmerksamkeit zwangsweise ab. Einige Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass sich die höchste Aufmerksamkeit nahe der Goldenen Zahl bewegt (was, prozentual ausgedrückt, 61,8% entspricht). Das heißt, dass der Chor nach etwa 61,8% der Probenzeit am aufmerksamsten ist (teilen Sie einfach die Anzahl der Minuten durch 1,618). Das wäre der beste Moment, um die Teile zu proben, die die meiste Aufmerksamkeit erfordern.
  • Benutzen Sie die Fibonacci-Folge (0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, etc.). Diese von Leonardo da Pisa beschriebene Folge (auch als Fibonacci bekannt) ist mit dem Goldenen Schnitt verwandt und taucht in vielfältiger Weise in der Natur auf (von der Anzahl der Blütenblätter bis zur Anordnung der Spirale in der Nautilus-Muschel). Sie kann auch als Mittel zur Zeiteinteilung benutzt werden. Auf unsere Proben bezogen, könnten wir unsere Arbeit mit einem Einsingen beginnen, das nicht länger als 7 Minuten dauert (was der Summe der ersten fünf Zahlen der Folge entspricht: 0+1+1+2+3=7). Danach können wir fünf Minuten an einem Stück arbeiten (der nächsten Zahl der Folge) usw. Wenn wir uns den größeren Zahlen nähern (wie der 10. Zahl der Folge, welche die 34 ist), könnten wir den Zeitblock unterteilen, um mehr als ein Werk zu proben (d.h., eins 15 Minuten lang, das andere 19 Minuten). All das natürlich in enger Verbindung mit unseren speziellen Zielen für diesen Tag.
  • Verwenden Sie für die Proben oder das Einsingen nicht immer das gleiche Schema. Setzen Sie neue und kreative Ideen ein, so dass der Chor nicht in eine mechanische Arbeitsweise verfällt.
  • Choraufteilung: Denken Sie an die Möglichkeit, den Chor in Gruppen aufzuteilen, um die Stimmen schneller zu erlernen.
  • Pacing. Bei der Chorprobe meint man mit pacing die Möglichkeit, in einem bestimmten Tempo voranzukommen. Hier nun einige Ideen, die sich auf das pacing beziehen:
  • Halten Sie die Probe in Schwung. Lassen Sie nicht zu, dass während der Probe die Dynamik stagniert. Seien Sie bereit, Ihren ursprünglichen Plan abzuändern, je nachdem, wie der Chor an dem Tag reagiert. Wenn Sie feststellen, dass der Chor mit einer Passage besondere Schwierigkeiten hat, bleiben Sie nicht starr daran kleben. Gehen Sie zu etwas anderem über.
  • Machen Sie Pausen, wenn es nötig ist. Beachten Sie dabei, dass eine Pause die Konzentration des Chors wiederbeleben kann, dass er danach aber einige Zeit brauchen wird, bis er wieder voll konzentriert ist.
  • Denken Sie an die Möglichkeit, Ihre Probe aufzunehmen (Bild oder Ton oder beides), so dass Sie Ihre eigene Arbeit beobachten können.
  • Sorgen Sie für einen guten Schluss der Probe. Das können Sie erreichen, indem Sie für das Ende ein wirkungsvolles, temporeiches Lied vorsehen oder ein Werk, das dem Chor besonders liegt. Das gibt ihm ein gutes Gefühl, schafft gute Laune und Lust auf die nächste Probe. Das ist jedenfalls der bevorzugte Schlusspunkt einer Probe. Scheuen Sie sich aber nicht, gelegentlich mit einer ernsten Ermahnung wegen nicht geleisteter Arbeit abzuschließen, was zu einer sehr fruchtbaren Zeit zwischen den Proben führen kann.
  • Denken Sie an die Möglichkeit, den Chor oder auch nur einzelne Sänger umzusetzen.
  • Beurteilen Sie Ihre Probe abschließend.

 

Verbale Kommunikation

  • Reden Sie wenig, singen Sie viel. Die Regel, die ich gelernt habe, lautet: “Sag’s in fünf Worten oder weniger”.
  • Geben Sie klare Anweisungen.
  • Reden Sie langsam, laut und deutlich.
  • Erklären Sie, womit Sie die Probe beginnen wollen, in wohlgeordneter Form: vom Ganzen zum Detail (Seitenzahl, System, Takt, Rhythmus).
  • Geben Sie keine Anweisungen an eine Gruppe, die gerade abgelenkt ist.

 

Musikalisches

  • Hören Sie hin. Ziehen Sie Ihren Plan nicht unbedingt entsprechend Ihrer Absichten durch. Hören Sie wirklich genau auf das, was der Chor singt und wie er es singt.
  • Wiederholen sie gezielt. Benennen Sie klar das Problem und bieten Sie eine Lösung an.
  • Fangen Sie ein Stück nicht immer an seinem Anfang an.
  • Halten Sie Ihren Chor dazu an, einen Bleistift bereit zu haben, um in die Partituren hineinzuschreiben.
  • Haben Sie den Mut, schwierige Passagen herauszugreifen und ihnen mehr Probezeit zu widmen.
  • Korrigieren Sie Fehler so bald wie möglich. Lassen Sie Ihren Chor aber trotzdem durchsingen, besonders dann, wenn er an dem Tag ein Stück zum ersten Mal singt. Unterbrechen Sie ihn nicht ständig. Hier die richtige Balance zu finden, ist schwierig.
  • Proben Sie je nachdem langsam. Wenn es bei langsamem Tempo nicht klappt, wird es auch bei schnellerem ungenau sein.
  • Bitten Sie die Sänger gelegentlich bei schwierigen Harmonien oder ungewohnten Akkorden, den Akkord zu halten, so dass sie die internen Beziehungen zwischen den Noten wahrnehmen können. Sie können die Akkorde auch Note für Note aufbauen.
  • Rhythmus und Text können getrennt werden, um an der Diktion zu arbeiten (einschließlich Einsetzen und Auflösen).
  • Die Wörter zu singen (unisono oder auf einen feststehenden Akkord) ermöglicht es den Sängern, sich auf den Text zu konzentrieren und dabei ihre Singstimme zu benutzen.
  • Seien Sie vorsichtig bei extremen Tessituren. Überlegen Sie, ob Sie zu hohe oder zu tiefe Passagen nicht in einer angenehmeren Oktave einüben sollten.
  • Vom Großen zum Kleinen. Halten Sie sich nicht mit Details auf, solange die Gesamtstruktur noch nicht steht.
  • Üben Sie laute Passagen gelegentlich leise ein, um Intonation und rhythmische Genauigkeit zu kontrollieren.
  • Benutzen Sie nicht ständig das Klavier. Denken Sie daran, dass das Klavier ein temperiertes Instrument ist, die Stimme aber nicht.
  • Beteiligen Sie, soweit es geht, alle Stimmen. Wenn Sie eine Passage mit einer Stimme üben müssen, fordern Sie die anderen Sänger auf, sie in ihrer Oktavlage mitzuüben oder ihre Stimme mitzusummen.
  • Scheuen Sie sich nicht, eine Stimme um die Unterstützung einer anderen zu bitten. Wenn die Tenöre z.B. eine sehr hohe Passage zu singen haben und die Altstimmen gerade nichts zu tun haben, könnten sie eventuell einige Altistinnen bitten, mit den Tenören mitzusingen.
  • Nutzen Sie betonte Noten, um die Genauigkeit der Tonhöhe zu überprüfen.
  • Feilen Sie ständig an der Stimmtechnik, nicht nur während des Einsingens, sondern auch während der gesamten Probe.
  • Kombinieren Sie Stimmen, um ein Problem besser zu lösen. Üben Sie die Stimmen nicht immer getrennt, sondern fassen Sie gelegentlich zwei oder drei Stimmen zusammen, um die harmonischen oder rhythmischen Zusammenhänge erkennen zu lassen.

 

Persönlicher Umgang

  • Gehen Sie mit Ihrem Beispiel voran. Verlangen Sie nichts von Ihren Sängern, was Sie nicht selbst tun würden.
  • Pflegen Sie einen freundlichen und vertraulichen Umgang mit Ihren Sängern.
  • Zeigen Sie sich verwundbar. Wenn Sie sich Ihren Sängern gegenüber öffnen, werden sie das auch mit Ihnen tun.
  • Das Ergebnis ist ein sehr spezielles und inniges Verhältnis, das zu einzigartigen und besonderen musikalischen Ergebnissen führt.
  • Seien Sie sich der sozialen Komponente bewusst und pflegen Sie Ihre Sensibilität.
  • Arbeiten Sie so viel wie möglich mit Humor (manchmal auch dann, wenn Sie Ihren Chor kritisieren müssen).

 

Dies sind einige Ideen, die ich während meiner Proben ständig im Auge habe. Ich habe sie fast alle von anderen Chorleitern „abgeguckt“, viele auch von meinen Lehrern Alberto Grau, María Guinand und Jo-Michael Scheibe, sowie aus Büchern zu diesem Thema. Die Kunst, wirksam zu proben, ist nicht einfach. Neben gelungenen Proben wird es auch weniger erfolgreiche geben, schließlich arbeiten wir mit einem lebendigen Ensemble, das in ständigem Wandel begriffen ist. Trotzdem kann das Beachten dieser Prinzipien Ihre Fähigkeit verbessern, erfolgreiche Proben durchzuführen. Denken Sie also immer daran, dass sich die wunderbarsten Momente musikalischen Tuns oft während dieser „Aufführungen“ der Werke „in progress“ ereignen.

 


1 Waveland Press, Illinois, 1992

2 Ibid

 

 

GrasesCristianCristian Grases erlangte seinen Masters Degree in Chorleitung unter Alberto Grau und María Guinand in Caracas, Venezuela, und seinen Doktorgrad in Chorleitung an der University of Miami. Er ist vielfach ausgezeichneter Komponist, der als Gastchorleiter, Musiktherapeut, Preisrichter und Pädagoge in Nord- und Südamerika, Europa und Asien tätig ist. Er gehört dem Verwaltungsrat der IFCM und dem Vorstand des Komitees,  Western Division, für ethnische und multikulturelle Perspektiven des ACDA an. Zur Zeit ist er Assistant Professor an der University of Southern California in Los Angeles.

 

 

Aus dem Englischen übersetzt von Reinhard Kißler, Deutschland

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