Polnisches Mysterium und Minimalismus: Twardowski, Bembinow und Łukaszewski

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Von Philip Copeland, Dirigent und Dozent

In den späten 1990er Jahren entstand die Bezeichnung „Heiliger Minimalismus”, um das Werk des englischen Komponisten John Tavener (1944-2013), des estnischen Arvo Pärt (*1935) und des polnischen Henryk Górecki (1933-2010) zu charakterisieren. Es handelt sich um einen Stil, der sich dem Trend zu Kompliziertem verweigerte und stattdessen auf eine Kontemplationshaltung zusteuerte. Vorwärtsbewegung wurde durch Stillstand ersetzt, Intellektualität zugunsten von Spirituellem verworfen. Jeder dieser drei Heiligen Minimalisten wurde stark von Techniken beeinflusst, wie sie in Zeiten des Mittelalters und der Renaissance für Vokalmusik üblich waren. Alle drei verwenden häufig liturgische Texte in ihren Kompositionen.

Der Einfluss des „Heiligen Minimalismus“ dehnte sich auf viele Komponisten weltweit aus, darunter auf die drei zeitgenössischen polnischen Komponisten, denen dieser Artikel gilt: Romuald Twardowski (*1930), Miłosz Bembinow (*1978) und Pawel Łukaszewski (*1968).

 

Romuald Twardowski

Der Komponist Romuald Twardowski ist Musikprofessor an der Fryderyk Chopin-Musikakademie (jetzt: Universität), einer der ältesten und größten Musikschulen in Polen. Ausgedehnte Studien an den Konservatorien von Vilnius und Warschau waren Teil seiner Ausbildung, ebenso ein Jahr bei Nadia Boulanger. Twardowski beschreibt seinen Zugang zum Komponieren wie folgt: Ich bewunderte die Rolle und Wichtigkeit der Tradition und fand in ihr Anregung für meine eigene Musik. Indem ich mir vorstellte, dass Extreme sich treffen, betrachtete ich das Mittelalter, den Gregorianischen Gesang, und fand Stücke, die – wenn sie mit den Errungenschaften kompositorischer Techniken des 20. Jahrhunderts (Aleatorik, Cluster) kombiniert werden – zu der gesuchten Synthese von Neuem und Altem führen würden.

Diese Synthese von Gregorianischem Gesang und modernen Techniken kann man klar an Twardowskis Regina Coeli (1996) ablesen. Dies ist ein von Gregorianik beeinflusstes Werk, aber von rhythmischer Erregung und Freude beherrscht. Er beginnt die Komposition mit einem kurzen Gesang aus dem Liber usualis, den ich hier in seiner originalen Gestalt als Beispiel 1 zeige:

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Beispiel 1. Regina caeli, aus dem Liber usualis

In seiner Fassung vereinfacht Twardowski den Choral zu einer weniger verzierten Form, zu sehen in den Männerstimmen (Bsp. 2):

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Beispiel 2. Twardowski, Regina Coeli, T. 1-9

Dieser Gegensatz von Choral und Rhythmus ist eine schöpferische Gegenüberstellung von alter Musik und vorwärtstreibendem Rhythmus. Der Komponist benutzt sie noch zweimal in der Komposition (Bsp. 3). In diesem Beispiel verlangsamt sich das schnellere Tempo auf „alleluia“ in einen Akkord hinein, der sich sofort in einen Liegeton auflöst, eine Wahl, die das Gefühl von Mysterium und Verbindung zur Vergangenheit verstärkt.

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Beispiel 3. Twardowski, Regina Coeli, T. 27-31

Twardowski hat in seinem Regina Coeli eine freudevolle Feier des traditionellen marianischen Texts geschmiedet. In das Werk wird gelegentlich ein Moment des Mysteriums hineingewoben, vor allem durch das Wiedererscheinen der eröffnenden Choralzeile. Der größte Teil des kleinen Werkes besteht aus einem Resurrexit-Thema und einer Sammlung fröhlicher Alleluias, charakteristisch für Twardowskis Musik. (Bsp. 4 und 5)

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Beispiel 4. Twardowski, Regina Coeli, T. 17-19

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Beispiel 5. Twardowski, Regina Coeli, T. 35-38

Seine Meisterschaft bei rhythmischen Motiven führt Twardowski in seinem Hosanna II vor, das er als Concerto Breve für gemischten Chor beschreibt. In dieser Komposition verwendet der Komponist die Wiederholung von Motiven, um Kompliziertheit und Vorwärtsdrängen zu erzeugen. Das Ergebnis gleicht sequenzierten Tonbandschleifen: sobald ein Motiv in einer Stimme beginnt, wird es sofort von anderen Stimmen mit eigenen Varianten wiederholt.

Die Töne von Beispiel 6 sind eine leichte Variation der Anfangstakte des Werks. Hier kann man einen additiven Vorgang feststellen, bei dem sich Musikmotive übereinanderschichten. Gelegentlich begleitet die Sammlung kurzer musikalischer Motive die lyrischeren Melodien der Tenöre und Bässe. Die Rollen verschieben sich später in der Komposition (siehe Bsp. 7), wenn die Männerstimmen die wiederholten Motive singen und die Frauenstimmen den lyrischeren Teil übernehmen.

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Beispiel 6. Twardowski, Hosanna II, T. 14-20

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Beispiel 7. Twardowski, Hosanna II, T. 52-57

 

Miłosz Bembinow (*1978)

Miłosz Bembinow studierte ebenfalls Komposition an der Fryderyk Chopin-Musikakademie in Warschau; heute ist er dort in der inzwischen Fryderyk-Chopin-Musikuniversität genannten Einrichtung als Assistenz-Professor angestellt. In Polen ist er ein gut bekannter Komponist und erhielt das Młoda Polská-Stipendium (Junges Polen) vom Polnischen Ministerium für Kultur und Nationalerbe. Seine Kompositionen werden auf über dreißig Aufnahmen vorgestellt, von denen zwei den „Fryderyk“-Schallplatten-Preis erhielten.

In einem Gespräch, das ich mit Bembinow führte, räumte er den Einfluss von Pärt, Górecki und Szymanowski ein, bezweifelte aber auf meine Frage, dass ältere Stile Einflüsse auf seine Kompositionen hätten. Während jedoch Renaissance- und andere ältere Techniken mit Sicherheit seine Kompositionen beeinflussen, betont er dagegen, dass sein Hauptinteresse darin liegt, seine Textinterpretation durch die Musik zu übermitteln. Er sagt: „Ich glaube, dass ich mich auf meinen Geschmack und auf mein Gefühl für auf Dichtung basierenden Proportionen – in einem tieferen Sinn – bei meiner Interpretation eines bestimmten Textes verlasse. Harmonie, Melodie und allgemeiner Ausdruck ergeben sich aus meiner eigenen Interpretation eines bestimmten Gebets oder einer Meditation.“

Die liturgischen Kompositionen von Bembinow beginnen oft mit einem Choral oder mit einer vom Choral beeinflussten Phrase. (Beispiel 8)

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Beispiel 8. Bembinow, Ave maris stella, T. 1-4

Nach einem Unisono-Beginn kleidet der Komponist die Melodie in eine Mehrstimmigkeit des 20. Jahrhunderts, in einem Stil, der gelegentlich an John Taveners Chorwerk The Lamb (1982) erinnert. (Beispiel 9)

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Beispiel 9. Bembinow, Ave maris stella, T. 9-12

Später führt Bembinow Gegenbewegung zu seiner choralähnlichen Melodie ein und begleitet sie mit einem Klang des 20. Jahrhunderts. (Beispiel 10)

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Beispiel 10. Bembinow, Ave maris stella, T. 34-37

Andere liturgische Werke von Miłosz Bembinow verwenden den Choral und mittelalterliche Kompositionsmittel in verschiedener Art. Sein preisgekröntes Werk Veni Sancte Spiritus zeigt mittelalterliche Kompositionsmittel im Zusammenhang mit Harmonik des 20. Jahrhunderts. (Beispiel 11) Man beachte bei diesem Beispiel die häufigen Quintklänge und die Gegenüberstellung von Zweier- und Dreier-Figuren.

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Beispiel 11. Bembinow, Veni Sancte Spiritus, T. 30-36

Vulnerasti Cor Meum ist ein anderes Werk, das mit einer choralähnlichen Figur beginnt; diese Melodie allein dient als Quelle für eine zugleich rhythmische und abwechslungsreiche Komposition. Er beginnt mit einer durch Liegetöne begleiteten Choralmelodie und verwendet die Gestalt des Chorals, um ein Motiv zu erfinden, das in weit schnellerem Tempo gesungen wird. (Beispiel 12)

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Beispiel 12. Bembinow, Vulnerasti Cor Meum, T. 1-3 und 11-12

 

Pawel Łukaszewski (*1968)

Pawel Łukaszewski ist ein sehr produktiver Komponist, der Kompositionsaufträge von wichtigsten Chören weltweit bekommt und dessen Werke von berühmten Künstlern wie Stephen Layton im Jahr 2008 und dem Choir of Trinity College aus Cambridge aufgenommen werden. Die Kompositionen von Łukaszewski sind vom Mystizismus von Pärt, Górecki und Tavener beeinflusst, aber zweifellos bahnt sich der Komponist seinen eigenen Weg durch unverwechselbaren Ausdruck, Stil und Technik.

Paul Wingfield [Dirigent und Korrepetitor am Trinity College in Cambridge sowie an der English National Opera] nannte im Beiheft zur CD von Stephen Layton mit dem Chor des Trinity College die harmonische Palette von Łukaszewski „zarter und ungemein vielseitiger als diejenigen von Pärt, Górecki und Tavener, und er ist fähig, ausgetretene Pfade zu umgehen; damit schafft er für jedes Stück eine im Kern grundsätzlich einzigartige Weise des harmonischen Ablaufs.“

Vieles von seiner Musik zeigt einzigartige Herangehensweisen an die Techniken, die den Mystischen Komponisten eigen sind. Der gregorianische Choral beherrscht manche seiner Kompositionen. Sein Psalmus 129 – komponiert 1995, verändert 2008 – ist ein wunderschöner, begleiteter Choral für Doppelchor. Obwohl der Komponist genaue Metronom-Anweisungen gibt und zahlreiche gemischte Tempoangaben, um denen zu helfen, die Gregorianik nicht gewohnt sind, singt sich das Stück wie von alleine. Mit einfachem Vorgehen und doch wunderbar wirkungsvoll ist der Satz des Bußpsalms, wohlbekannt als De Profundis. (Beispiel 13)

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Beispiel 13. Łukaszewski, Psalmus 129, T. 33-35

Eine andere Herangehensweise wählt Łukaszewski bei der Aussetzung des Psalmus 102 (2003). Anstatt die Choralmelodie mit vorwiegend stehenden Akkorden wie bei seinem Psalmus 129 zu begleiten, vertont der Komponist die Choralzeile mit homophoner Rhythmik, die sorgfältig eingerichtet ist, dem lateinischen Text einen besonderen Nachdruck am Anfang des Werks zu geben. Später bietet er einen kontrastierenden Abschnitt, in dem der Text in zeitversetzten Einsätzen im gesamten Chor mitgeteilt wird. (Beispiel 14)

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Beispiel 14. Łukaszewski, Psalmus 102, T. 1-2, 35-37

In einem seiner bekanntesten Werke, dem Nunc Dimittis (2009), verwendet Łukaszewski gleich zu Anfang einen Liegeton, der durch fast das ganze Stück hindurch gehalten wird, von einem kleinen Solistenquartett ausgeführt. Der Rest des Chors sorgt für die homophone Darbietung des Textes, erkundet Harmonien und Dissonanzen, welche den Liegeton einschließen. (Beispiel 15) Nach einer Weile löst sich der Liegeton in etwas auf, das wie eine gelegentliche geistliche Äußerung des Soloquartetts wirkt, während der Chor eine sich dauernd wiederholende Reihe von Akkorden singt, die als Ostinato dienen und mit jeder Wiederholung schwächer werden.

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Beispiel 15. Łukaszewski, Nunc Dimittis, T. 1-5

Pawel Łukaszewski ist ein mit kreativen Zugängen zu liturgischen Texten überquellender Komponist. Er verwandelt Techniken der Vergangenheit in neue Werkzeuge für heute. Sein Zugang ist tiefgreifend, seine Ergebnisse sind vielfältig. Seinen Kompositionen könnte man besser in Dissertationen als mit den beschränkten Worten in diesem Aufsatz dienen. Andere beliebte Werke sind Two Lenten Motets (1995), Antiphonae (1995-1999) und Terra Nova Et Caelum Novum (2006).

Die musikalischen Schöpfungen von Twardowski, Bembinow und Łukaszewski erfassen manches der spirituellen „Aura“ von Tavener, Pärt und Górecki. Während sie ihre individuelle Sprache bewahren, zeigen viele ihrer Werke einen Hang zum Geistlichen durch die Wahl liturgischer Texte, die Verwendung oder den Einfluss von Gregorianik sowie die Anwendung von Liegetönen und Ostinati. Diese drei Komponisten haben makellos das Mysterium und die Techniken der Vergangenheit erfasst und sie mit den Harmonien und Kompositionsweisen von heute verschmolzen.

Philip L. Copeland ist Direktor der Choraktivitäten und Associate Professor of Music an der Samford-Universität in Birmingham, Alabama (USA). Häufig und erfolgreich treten seine Chöre in internationalen Wettbewerben an, ebenso bei Konferenzen der American Choral Directors Association (Amerikanischer Chordirigenten-Verband) und der National Collegiate Choral Organization (Nationale Vereinigung der Hochschulchöre). In Samford unterrichtet er Dirigier-, Sprachausbildungs- und Musikpädagogik-Klassen. Dr Copeland erwarb Diplome in Musikerziehung und Dirigieren von der University of Mississippi (B.M.), dem Mississippi College (M.M.) und dem Southern Baptist Seminary in Louisville, KY (doctor of musical arts in conducting). In Birmingham dirigiert er Musik an der South Highland Presbyterian Church und bereitet den Alabama Symphony Chorus für Aufführungen mit dem Alabama Symphony Orchestra vor. Er ist Vater von drei neunjährigen Töchtern: Catherine, Caroline und Claire – Drillingen. E-Mail: philip.copeland@gmail.com

Übersetzung aus dem Englischen von Klaus L Neumann, Deutschland

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