Proben-Management

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Wachsen oder nicht – das ist die Frage

Fangen wir mit einer Tatsache an: es gibt immer bessere Methoden, Dinge zu tun, als die, die wir gerade jetzt benutzen.  Unsere Vorgangsweisen mögen den Zahn der Zeit überstanden haben, aber das garantiert noch lange nicht die besten Ergebnisse.  Wer weiß, wie viele bessere Lösungen es gibt als die, die ich im Folgenden aufzählen werde.  Aber dennoch wollen wir jetzt ein paar andere Methoden untersuchen, um unsere Chorproben effektiver zu gestalten.

1. Haupt- und Nebenrollen

Wenn Dirigenten beschließen, dass die Proben intensiviert werden müssen – vielleicht steht ein wichtiges Konzert ins Haus – teilen sie den Chor in Gruppen auf und oft, weil es bequemer ist, kombinieren sie jeweils zwei Stimmgruppen.  Wenn dies der Fall ist, trennen die Dirigenten meist Männer von Frauen.  Dabei ergeben sich jedoch gewisse Risiken, die wir genau betrachten sollten.  Das fängt schon beim Anfang an: während des Einsingens, besonders bei Übungen für die Qualität der Vokale, wird eine der beiden Stimmgruppen aussetzen müssen: die Altistinnen, weil ihnen manche der Übungen zu hoch sind, die Soprane, wenn es sich um die tieferen Lagen handelt.  Ganz abgesehen von der Zeit, die verloren geht, wenn eine der beiden Stimmgruppen aussetzt, kann sich diese Vorgehensweise vom pädagogischen, also vom psychologischen Standpunkt her, als unwirksam erweisen.  Alt und Bass leiden meist mehr unter der Unbequemlichkeit, bei den eindrucksvolleren, höheren Passagen nicht mitmachen zu können.  Mit anderen Worten: obwohl das keineswegs seine Absicht ist, riskiert der Chorleiter, den Eindruck zu erwecken, dass es Haupt- und Nebenrollen gibt, und das richtet nun schon einmal gar nichts aus, wenn es um die geistige Harmonie geht, ganz abgesehen von der stimmlichen.  Diese Falle kann mühelos umgangen werden, indem man Einsingübungen für zwei Stimmen mit verschiedenem Tonumfang benutzt, aber sie ist nicht die einzige Falle.  Eine ernsthaftere Folge, so weiter zu machen wie zuvor, besteht in der Möglichkeit der “Verschmutzung”, dass beispielsweise die Klangfarben der beiden Stimmgruppen beginnen, sich zu ähneln.  Beide Stimmgruppen begegnen sich, unbewusst, an einem zentralen Punkt der Klangfarben-Charakterisierung, der weder die eine noch die andere Klangfarbe zum Ausdruck bringt.  Vereinfacht heißt das, dass die Männer alle wie Baritone klingen und die Frauen alle wie Mezzosoprane; die höheren Stimmen streben nicht mehr nach der Resonanz, und die unteren nicht mehr nach der für sie typischen Tiefe.

2. Nützliche Kombinationen

Wenn man den Chor für Probenzwecke in zwei Teile trennt, gibt es also mehr Sinn, wenn man die Soprane mit den Tenören und die Altistinnen mit den Bässen üben lässt.  Die oben beschriebene Gefahr des Verlustes der typischen Klangfarben wird vermieden, weil die beiden Stimmgruppen denselben Tonumfang besitzen, wenn auch mit einer Oktave dazwischen.  Jetzt wollen wir einen anderen wichtigen Faktor hinzufügen, der eine Menge Probenzeit einsparen kann, denn zumindest in den meisten polyphonen Musikstücken singen Soprane und Tenöre nacheinander dasselbe Motiv, ebenso die Altistinnen und die Bässe.  Beim Einstudieren und Konstruieren eines Stückes kann man die zur Verfügung stehende Zeit am besten nutzen, indem man die Stimmgruppen das Motiv gemeinsam singen lässt – bis zu der Stelle, wo die Linien voneinander abweichen.  Dabei können die Sänger kaum umhin zu merken, mit welcher Sorgfalt der Dirigent die pädagogische Seite der Probe angeht, und das kann ihrem Vertrauen in ihn nur förderlich sein.  Es gibt noch einen letzten Gesichtspunkt.  Wenn man alte Polyphonie einstudiert, ist es sehr nützlich, die Tenöre mit den Altistinnen zu kombinieren.  Dadurch, dass beide Stimmgruppen den altus singen, kann man erfreuliche Überraschungen erleben, indem man unter den Männern Kandidaten für den Kontratenor entdeckt, die einen riesigen Beitrag zur Annäherung an die Aufführungspraxis der Zeit liefern könnten.  Wenn Sie bewusst auf der Suche nach Kontratenören sind, sollten Sie Ihre Baritongruppe untersuchen – dort finden sich häufig verborgene Juwelen, die diese Rolle ausführen könnten.

3. Selbstachtung und Selbstbewusstsein

Der Dirigent könnte jede Probe mit einen anderen Oktett (zwei Sänger pro Stimmgruppe) abschließen, als Erweiterung der Probe.  Einsingübungen sind überflüssig (die Stimmen des Oktetts sind schon eingesungen und sie sind bereit loszulegen, jeweils innerhalb ihres Stimmumfangs), und wir können uns darauf konzentrieren, Stücke, die sie gut kennen, oder die der Chor gerade geprobt hat, zu polieren.  Das wird sowohl die Selbstachtung der Sänger erhöhen als auch das Interesse des Dirigenten an ihnen betonen.  Darüber hinaus werden sich ausgezeichnete Möglichkeiten ergeben, gewisse Phrasen wirklich sorgfältig zur Vollendung zu bringen, an besonderen stimmlichen Lautgebungen zu arbeiten und eine flüssige Ausführung zu erzielen, was mit dem ganzen Chor nicht leicht erreichbar ist.  Was die alte Musik betrifft, so gestattet dies Vorgehen die Erstellung eines Klanges, der ehrlicher und der Praxis der Zeit ähnlicher ist, denn wir wissen, dass zur Zeit der Renaissance die Zahl der Chorsänger geringer war.  Die besten Ergebnisse erzielt man natürlich, wenn man dasselbe Stück mit allen Oktetten unter die Lupe nimmt.  Wenn dann der gesamte Chor das Stück singt, wird man eine unverkennbare Verbesserung der Stimmqualität, der Phrasierung, der Flexibilität und der Aufführung als Ganzes konstatieren können.

In einem kleinen Chor kann man Quartette statt Oktette benutzen, und das wäre mit Sicherheit die beste Lösung.  Die Wahl eines Oktettes ist nur darin begründet, dass alle vier Stimmgruppen vertreten sein sollen.  Selbst in einem größeren Chor sollte der Plan darin bestehen, je einen Sänger pro Stimme zu haben.  In diesem Falle würde jedoch die Abwesenheit eines Sängers das Quartett einer ganzen Stimmgruppe berauben, wodurch die gesamte Darbietung unvollständig würde.  Wenn man diese Methode benutzt, sollte jeder Sänger nur einmal in acht Proben beteiligt sein (wir gehen von einem Chor mit 30 oder genau genommen 32 Mitgliedern aus).  Bei einer Probe pro Woche läuft das auf einen Quartetteinsatz alle zwei Monate hinaus, und das wird oft unzureichend sein.  In diesem Fall sollte der Dirigent sich, wenn möglich, mit einem Quartett vor der allgemeinen Probe und einem anderen am Ende treffen.  Wenn jedes Quartett eine halbe Stunde bekommt, die Hauptprobe aber um eine halbe Stunde verkürzt wird, so bedeutet das für den Dirigenten nur eine halbe Stunde extra Zeit, und für die Sänger bleibt der Zeitaufwand gleich.  Es ist erwähnenswert, dass eine Probe, die auf diese Weise strukturiert ist, nicht nur dem Dirigenten beträchtliche künstlerische Befriedigung beschert, sondern auch den Sängern, wegen der Soloformation und des besonderen Klanges, der von ihr ausgeht.  Wenn die Sänger nicht gewöhnt sind, einzeln zu singen, ist es möglich, dass die ersten Proben schwierig und von häufigen Unterbrechungen gekennzeichnet sind.  Später werden sich die Chormitglieder auf diese Treffen mit Begeisterung freuen, sowohl wegen der Nützlichkeit als auch wegen der Befriedigung und des Fortschrittes, den sie auf künstlerischer Ebene davon tragen werden.

4. Klangfarbe

Chöre lassen sich erfolgreich in zwei komplette, selbständige Halb-Chöre aufteilen.  Dies kann auch als erster Schritt in Richtung der Verkleinerung der Mitgliederzahl verstanden werden, mit dem Ziel der Annäherung an authentische Aufführungspraxis, wie oben beschrieben.  Wenn der Chor, was Niveau und Zahlen angeht, eigentlich besser nicht in zwei geteilt wird, oder wenn die Sänger sich dieser Aufforderung widersetzen, dann kann die Gruppe dennoch aufgeteilt werden, wenn man die zwei Halbchöre einander gegenüber aufstellt, damit das Ganze nicht geschwächt wird.  Damit lassen sich sogar große Dinge erreichen, beispielsweise, wenn dasselbe Stück abwechselnd dirigiert wird.  Das würde bedeuten, dass die beiden Chöre sich zwischen den Abschnitten, aus denen das Stück besteht, abwechseln, wobei man vielleicht mit einer homophonen Stelle beginnt, um es einfacher zu halten.  So müssen die Sänger verschiedene Aspekte gleichzeitig berücksichtigen: vom rhythmischen Fluss der anderen Chorhälfte bis zu der Notwendigkeit, die Intonation ihrer Stimme im Kopf aufrecht zu erhalten, bis zum größeren Verlass auf die Gestik des Dirigenten (durch welche das Abwechseln der Chöre entschieden wird, ohne genau von perfekter Symmetrie oder von Sequenzen abhängig gemacht zu werden), und bis zum Streben nach Einheitlichkeit der Klangfarbe mit den Sängern gegenüber.  Was dies betrifft, so kann der Dirigent die Lage nach Gutdünken ausnutzen.  So könnten die zwei Chorhälften sogar bewusst auf der Basis der Tonklangfarben ausgewählt werden (in einer Hälfte klare und zarte, flexible Stimmen, in der anderen die abgerundeteren und dunkleren), und dann jede Gruppe dazu auffordern, diese Klangfarbe beizubehalten, oder sogar nach der bestmöglichen Entfaltung ihres eigenen Timbres zu streben.  Das würde einen Chor mit zwei Klangfarben ergeben: bei der Aufführung von alter Polyphonie könnte der Dirigent die Gruppe mit der helleren Farbe dazu auffordern, etwas mehr in den Vordergrund zu treten, während für Stücke aus der Romantik oder später dasselbe von den Sängern mit den dunkleren Stimmen erbeten werden könnte.  Ansonsten können die zwei Halbchöre auch so zusammengestellt werden, dass die helleren Stimmen mit den dunkleren vermischt werden.  Auf diese Weise lässt sich mühelos eine einheitliche Klangfarbe erzielen.

Der Chor könnte auch so aufgeteilt werden, dass die weniger sicheren Sänger zusammen bleiben, oder die künstlerisch schwächeren und musikalisch weniger begabten – in anderen Worten: die, die sogenannte Mentoren brauchen.  Meist werden sie, wenn sie plötzlich ihres gewohnten Sicherheitsnetzes beraubt sind, mit der Ermutigung und Unterstützung des Dirigenten ein wachsendes Gefühl der Verantwortlichkeit erleben, sich nicht mehr weniger wert fühlen und größeres Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten erwerben.  Wenn diese Situation ein wenig eingeübt worden ist, wird nichts mehr zu schwer sein, und wenn der Dirigent sich einen Spaß machen und das Abwechseln der Chöre ins Extrem führen will, so kann er das.  Ein Takt pro Halbchor würde dem Klang eine wunderbare stereophone Qualität verleihen, ganz abgesehen von den positiven Ergebnissen, die oben aufgezählt wurden.  Der Dirigent kann sich ausleben und jede Menge Mätzchen und Improvisationen erfinden.  Für das taktweise Abwechseln der Chöre braucht es Virtuosität.  Das ist keine einfache Übung in akrobatischer Geschicklichkeit, sondern eine Demonstration, dass bemerkenswertes Geschick und Bewusstsein der Stimmen erreicht worden ist, was zum Erfolg einer Aufführung beitragen kann.

Danach wird der Chor in der Lage sein, sich Stücken zu stellen, die nicht homophon sind.  Jetzt bedeutet willkürliches Abwechseln fast immer, dass manche Stimmgruppen in der Mitte einer musikalischen Phrase einsetzen müssen, so dass die Sänger viel intensiver als vorher, ohne selbst zu singen, ihre Stimme in den Noten verfolgen müssen, während sie gleichzeitig den anderen zuhören.  Noch besser ist es, dies nur im Kopf abzuwickeln.  Es ist schwierig, aber nicht unmöglich, und sehr wirkungsvoll, denn im Kopf erlebt die Klangwelt den Zustand besonderer Gnade, weit entfernt von möglichen Verunreinigungen und den physiologischen Problemen des Singens. 

5. Der stumme Chor

Aus dieser letzten Überlegung ergibt sich eine interessante Variante: abwechselnd mit dem Singen des Chores ein schweigendes Verfolgen der Partitur.  Diese Methode kann wirkungsvoll mit jeglicher Aufteilung des Chores, mit Quartetten, Oktetten und Halbchören, sowie mit dem ganzen Chor, in die Praxis umgesetzt werden.  Das Stück beginnt wie immer, aber irgendwann schlägt der Dirigent weiter den Takt, gibt aber ein Zeichen, dass das Singen aufhören soll: die Gesten des Dirigenten und der Pulsschlag gehen weiter, aber es herrscht Schweigen.  Nachdem ein paar Zeilen der Partitur lautlos verfolgt worden sind, kommt ein Zeichen, dass der Chor wieder singen soll.  In der verstrichenen Zeit wird der Chor die Partitur im Kopf verfolgt, gleichzeitig aber sorgfältig auf die Gesten des Dirigenten geachtet haben.  Die beträchtliche Wirksamkeit dieser Übung besteht darin, dass jedes Chormitglied die fehlenden musikalischen Linien im Kopf errichten muss – und nur dort.  Zu Anfang wird der Dirigent diese Übung mit einem kurzen lautlosen Abschnitt beginnen, der im Laufe der Zeit verlängert wird.  Dies kann mit polyphonen wie mit homophonen Stücken gemacht werden.  Wenn der lautlose Abschnitt recht lang gewesen ist, wird der Einsatz auf einem tadellos richtigen Akkord eine begeisternde Leistung für alle, einschließlich dem Dirigenten, darstellen.  Man darf sich nicht von den ersten, unvermeidbaren Fehlschlägen entmutigen lassen, sondern muss durchhalten, denn der Erfolg dieser Maßnahme ist das Sicherstellen der Tatsache, dass jeder Sänger sich die zu singenden Melodien innerlich vorstellen kann.  Sie werden dann mit ihnen wirklich von innen heraus vertraut, was zu größerer Anpassungsfähigkeit und Flexibilität führt in der Reaktion auf alles, das der Dirigent vielleicht von ihnen stimmlich und melodisch verlangt. Darüber hinaus haben die Sänger während der stillen Phase der Ausführung, abgesehen von ihrem Gedächtnis, nur zwei Stützen: die Gesten des Dirigenten und die Noten.  Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, diese beiden Faktoren eng zusammen zu bringen, enger als gewöhnlich, wenn ein Sänger von den anderen mit getragen wird und sich den Luxus leisten kann, faul mit gezogen zu werden.  Auf diese Weise muss jeder selbst die Klänge und Rhythmen selbst erschaffen, sich die Entwicklung der korrekten Intonation vorstellen, die Aufführungsangaben selbst in die Praxis umsetzen, die geschriebenen, gesehenen Noten müssen im Geist gehört werden, und vor allem muss das alles mit der Gestik des Dirigenten in Einklang bleiben.

 

6. Aufstellung

Welche Wahl auch immer getroffen wird, was die Aufstellung des Chores angeht, so wird wärmstens empfohlen, die Positionen der Sänger häufig zu wechseln, so dass sie nicht immer zwischen denselben beiden Leuten sitzen.  Es ist eine bekannte Tatsache, dass feststehende Positionen in den schwächsten Sängern ein Gefühl der Minderwertigkeit hervorrufen können, sowie, dass dadurch die dominierende Stellung der sichereren Chormitglieder verstärkt wird. 

6.1       Die schiere Tatsache der Aufstellung im Halbkreis kann alle, die darin sitzen, beschützend und aufmunternd umhüllen.  Die schwächeren Sänger fühlen sich neben erfahreneren noch sicherer, und sie haben keinen Anreiz, zu reifen und unabhängiger von diesen Mentoren – nützliche Gestalten in einer Hinsicht, aber schädlich in anderer – zu werden.  Die vorübergehende Abwesenheit eines der letzteren wird den gesamten Chor in einen Zustand der Unsicherheit versetzen, da die weniger erfahrenen Sänger eine unterwürfige und resignierte Einstellung an den Tag legen werden, was für eine Konzert-Situation nun ganz und gar nicht geeignet ist. 

6.2       Schlechte Angewohnheiten lauern immer irgendwo, einschließlich der Fehler anderer, die leicht absorbiert werden können.  Wenn man seinen Nachbarn zwischen zwei Achtelnoten atmen hört, oder schlecht beherrschtes Vibrato oder Schleifen, dann ist es fast unmöglich, nicht mit zu machen (vor allem, wenn der Dirigent nichts sagt).  Wenn ein neues Chormitglied in der Nähe eines Sängers aufgestellt wird, der diese Fehler macht, dann kann das in dem Neuen ein gewisses Misstrauen auslösen.

6.3       Zusammen mit der Unbeweglichkeit der Aufstellung stagniert die Klangfarbe.  Es ist eindeutig viel schwieriger, die falsche Stimmgebung eines Sängers, der sich an seine Klangfarbe klammert, zu korrigieren, wenn dessen Nachbar ihn nachahmt und so die fehlerhafte Lautgebung verstärkt.  Eine neue Aufstellung kann hier viel ausrichten.  Wenn der Neuzugang gut singt, dann wird er imstande sein, die Nachbarstimmen durch Nachahmung zu verbessern.  Sollte er nicht gut sein, dann hilft es, das Selbstbewusstsein des besseren Sängers zu unterstützen.  Das Erreichen einer guten stimmlichen Lautgebung ist selten durch eine schlechtere gefährdet.

6.4       Es besteht ein ständiges Risiko, dass sich innerhalb eines Chores Fraktionen bilden.  Ständige Nähe zu denselben Personen erweckt die Tendenz zu einer komplizenhaften Einstellung, die zu Entfremdungen führen kann, die der geistigen Einheit des Chores schaden können.  Eine neue Aufstellung dagegen garantiert einen sehr nützlichen Austausch, der das Zusammengehörigkeitsgefühl des Chors stärkt.  Jeder Dirigent weiß, wie lang die zehn Meter von einem Ende des Halbkreises zum anderen sein können, und wieviel Abstand, psychologisch und körperlich, in diesem kleinen Raum vorhanden sein kann.

6.5       Routine – sollte um jeden Preis vermieden werden, vor allem in einem künstlerischen Umfeld, das zu jeder Zeit kreativ und von schneller Reaktionszeit sein sollte.  Wenn man die Sänger neu mischt, dann reicht das erstaunlicherweise, um alte Gewohnheiten abzustellen, und um Begeisterung, die vielleicht ein wenig im Winterschlaf gelegen hatte, neu zu entfachen.

7. Ungewöhnliche Anweisungen

Es ist empfehlenswert, gelegentlich die Sänger auf vollkommen willkürliche Weise sitzen zu lassen, ohne Bezug auf Stimmgruppen, Tradition, Freundschaften, Sympathien, Verbindungen usw. (siehe oben).  Wenn genug Platz für eine einzige lange Reihe vorhanden ist, dann kann das dazu beitragen, dass es keine Hilfe von Kollegen in der hinteren Reihe gibt.  Dagegen kann eine Anordnung in mehreren Reihen helfen, dass andere Stimmen aus unerwarteten Richtungen gehört werden, was eine Quelle akustischen und musikalischen Interesses für jeden Sänger darstellt.  Ein Sopran hört plötzlich die Melodie des Basses hinter sich, und die ungewöhnliche Richtung, aus der dieser Klang kommt, wird mit Sicherheit akustisches und harmonisches Interesse hervorrufen.

7.1 Es gibt noch mehr Vorteile, die sich ergeben, wenn man dasselbe Stück zweimal nacheinander singen lässt, wobei sicher zu stellen ist, dass die Aufstellung willkürlich und jedes Mal verschieden ist.  Auf diese Weise können die Sänger die Anwesenheit einer Stimme oder von melodisch und harmonisch wichtigen Abschnitten klar erkennen, Faktoren, die bis dahin verborgen oder zumindest halb verdeckt gewesen waren.  Der Dirigent sollte die verschiedenen Aufstellungen sorgfältig zu ihrer vollen Wirksamkeit ausnutzen.  Beispielsweise könnte ein Sänger aus einer Gruppe entfernt und mit vielen anderen Sängern umgeben werden, wodurch dieser “Solist” sich seiner Rolle bewusster wird und sein gesanglicher Beitrag verbessert wird.  Das kann sowohl zur Verstärkung des Selbstbewusstseins eines erfahrenen Sängers als auch zur Ermutigung der Entwicklung eines weniger erfahrenen beitragen.  Als Kontrast könnte der Dirigent auch mehrere Mitglieder derselben Stimmgruppe mit je einem Sänger aus allen anderen Stimmen kombinieren, wodurch letztere ihre stimmliche Anwesenheit beweisen müssen.

7.2       Man könnte auch ein komplettes Quartett innerhalb des Durcheinanders der anderen Sänger zusammen bleiben lassen.  Das würde das Abwechseln des Quartetts mit dem Gesamtchor ermöglichen, oder Chor oder Quartett könnten zu unvorhersehbaren, unregelmäßigen Zeiten zum Aussetzen und Wieder-Einsetzen gebracht werden, wobei sie jedes Mal ihre Intonation und den Rhythmus aufrecht erhalten.  All dies trägt dazu bei, dass das Repertoire eines jeden Sängers besser zu Tage kommt, und dazu, dass die Ansichten und Schätze, die sonst im Klang des Gesamtchores verborgen bleiben könnten, erkannt werden.

 8.      Dissonanz

Dieser nächste Fall ist eine auf den ersten Blick schwere Übung, aber eine, die sich pädagogisch in vieler Hinsicht lohnt.  Der Chor singt ein vertrautes Stück – die ersten paar Male am besten ein homophones – wobei entweder die beiden Männerstimmen oder die beiden Frauenstimmen einen Takt später einsetzen.  Das Ergebnis starrt natürlich vor Dissonanzen, aber die Sänger sollen trotz der ständigen Störungen durch die beiden anderen Stimmgruppen ihrer melodischen Linie treu bleiben, auch wenn sie normalerweise in ungestörter Harmonie singen.  Bei der ersten Kadenz, oder nach einer hinlänglichen Zahl Takte, warten die Stimmgruppen, die angefangen hatten, auf die anderen, die einen Takt hinterher hinken, und schließlich, wenn alles nach Plan läuft, vereinigen sich die Sänger zum ersten harmonischen Akkord.  Die Zufriedenheit damit hält aber nicht lange, denn alles fährt gleich weiter fort; es bleibt gerade genug Zeit, um die Korrektheit der Harmonie zu erkennen.  Es ist eine anspruchsvolle Übung, aber in diesem Fall kann eine Ausführung, die weder schnell noch oberflächlich ist, eine wirkliche Garantie zur Aufrechterhaltung der Intonation bedeuten, vor allem, wenn es sich um harmonische Intervalle handelt, die bewusst um wahre Dissonanzen herum konstruiert sind.  Die Sänger werden dazu gezwungen, ihre melodische Linie zu verinnerlichen, sowohl vom rhythmischen als auch vom melodischen Standpunkt her, und ihre Einsätze werden viel unabhängiger und bewusster sein als zuvor.

8.1       Möglicherweise besteht der erste Zugang zu dieser schwierigen Übung darin, den Chor in zwei Hälften aufzuteilen (siehe Punkt 2 – es ist besser, die Soprane mit den Tenören und die Bässe mit dem Alt zu kombinieren), und die Sänger aufzufordern, eine sehr schlichte Tonleiter in C-Dur zu singen, aufwärts und abwärts.  Wie zuvor setzt jedoch eine Hälfte einen Schlag später ein.  Die Ankunft der zweiten Gruppe auf demselben Ton bringt alle kurzfristig zusammen, und dann bewegt sich alles wieder in Richtung der nächsten Dissonanz.  Wieder sind die Variationsmöglichkeiten unbegrenzt.  Es ist jedoch empfehlenswert, dass es nicht immer dieselbe Gruppe ist, die anfängt, sondern dass beide Hälften für die Schaffung der Dissonanzen verantwortlich sind, mit Wechsel am Ende der Übung oder für die Abwärtsrichtung.  Die Dissonanzen, die man beim Singen ihres unteren Tones hört, sind grundverschieden von denen, die man als oberer Sänger vernimmt. 

8.2       Was die Verschmelzung der Klänge und die Reinheit der Dissonanz angeht, so erzielt man das beste Ergebnis, wenn alle denselben Vokal singen, auch wenn die Namen der Noten den Sängern helfen würden, ihren Platz innerhalb der Tonleiter zu erhalten, oder zumindest die Stellung der Halbtöne.  In der Tat untergraben Übungen wie diese die Hierarchie der melodischen Intervalle der Tonleiter zutiefst.  Deshalb kann der Gebrauch der Notennamen dazu beitragen, den Bezug zum Klang der Note innerhalb dessen zu verbinden, was von der Struktur der Durtonleiter noch übrig ist, nach der Zerstörung der Organisation der diversen Stufen der Tonleiter durch die ununterbrochene Folge von Dissonanzen. 

9. Verfeinerung des Hörens

Trennen Sie eine Stimmgruppe vom Rest des Chors, indem Sie sie, ein paar Meter und dann noch ein paar Meter, von den anderen wegrücken.  Sollte eine Stimmgruppe schwächer sein, dann wird der räumliche Abstand vom Chor es den Sängern gestatten, sich besser zusammen zu finden, stimmlich wie psychologisch.  Gleichzeitig wird ihre Hörfähigkeit sich verbessern.  Diese Praxis kann dadurch weiter entwickelt werden, dass man die “entfernte” Stimmgruppe zum lautlosen Singen auffordert, wie in 5 beschrieben.  Sie unterbrechen ihr Singen eine Weile, während die anderen weiter singen, sie werden aufgefordert, ihre eigene Stimme sorgfältig zu verfolgen und, wenn der Dirigent sie dazu auffordert, wieder einzusetzen.  Auf diese Weise erhalten auch die anderen Chormitglieder die Gelegenheit, die Länge und die Tiefe ihrer Konzentrationsfähigkeit auszudehnen, während sie sich bemühen, im Geiste die Klänge zu erzeugen, die vorübergehend fehlen, in einem harmonischen Zusammenhang, der mit ihrer eigenen Melodie verwandt ist, aber unter neuen Bedingungen.  Die verbliebene dreistimmige Harmonie wird in der Tat neue Blickwinkel öffnen und Beziehungen zwischen den verbliebenen Stimmgruppen aufdecken.  Beispielsweise besitzt eine Quinte, wenn sie ohne die Terz dazwischen gesungen wird, erstaunliche Stabilität.  Gleichermaßen bringt eine kleine Septime, die zu einem Dominant-Septakkord gehört – ganz besonders in ihrer zweiten Umkehrung – ihre ganze dynamische Kraft zum Vorschein, wenn sie aus dem harmonischen Zusammenhang ihres eigenen Akkordes herausgelöst wird, usw.

10. Gemeinsames Beurteilen

Auch wenn dies nicht wirklich zum Probenmanagement gehört, so könnte sich mein nächster Vorschlag doch als nützliches Werkzeug zur Verbesserung des Niveaus eines Chores erweisen, und deshalb werden wir uns damit befassen.  Sollten Sie Tonträgeraufnahmen von Konzerten Ihres Chors haben, hören Sie sich die nach einem gewissen Abstand einmal wieder an, am besten nach mehreren Jahren.  Sie werden merken, dass sich die Stücke des Kernrepertoires, die der Chor im Lauf der Jahre immer wieder singt, in dieser Zeit langsam aber unaufhaltsam verändern.  Die Phrasierungen ändern sich ein ganz klein bisschen, aber so langsam, dass es fast unverändert klingt.  Das bedeutet, dass eine Partitur über eine Reihe Jahre hinweg zutiefst anders klingen kann, ohne dass irgendjemand – ausgenommen vielleicht der Dirigent – bewusst etwas unternommen hat, um die Lage zu verändern.  So kann das Hören im Rückwärtsgang sehr nützlich sein.

Es bestehen hier drei offensichtliche Möglichkeiten: der Chor ist schlechter geworden, er hat sein Niveau gehalten, oder er hat sich verbessert.  Jede dieser Möglichkeiten hat eine positive Auswirkung auf den Chor, selbst die erste.  Wenn er sich verschlechtert hat, bedeutet das, dass es nicht unmöglich ist, das frühere künstlerische Niveau wieder zu erlangen, unterstützt von dem Bewusstsein, dass wir einmal so gut waren.  Um zum alten Glanz zurück zu kehren – das bedeutet die Wiederbelebung der Artikulation, der Eleganz der Phrasierung und der Vielfalt der Klangfarben, die im Laufe der Zeit durch Gewohnheit, Routine oder Ermüdung ein wenig verschlampt worden waren.  Sollte der Niveauverlust am Verlust von vielen erfahrenen Sängern und/oder der Ankunft von neuen Chormitgliedern liegen, dann muss die Situation sofort in Angriff genommen werden, damit das Niveau nicht weiter sinkt und die alten Leistungen dann möglicherweise nie wieder ganz erreichbar würden.

Sollte das Niveau gleich geblieben sein, dann dürfen wir uns freuen, dass der Verlauf der Zeit die Qualität des Chores nicht beeinträchtigt hat.  Es bedeutet, dass der Weg, den der Dirigent eingeschlagen hat, weiterhin erfolgreich ist und dass die Sänger Vertrauen in ihn besitzen.

Wenn der Chor sich verbessert hat, dann sagt das alles.  Wir müssen jedoch bedenken, dass die Entwicklung eines Chores langsam vonstattengeht.  Fortschritt wird an einer Linie mit nur ganz geringer Steigung gemessen.  Die Beurteilung des Niveaus eines Chores, wenn an dieser minimalen Steigung gemessen, bringt also minimale Ergebnisse, wenn sie nur kurze Zeitabschnitte in Betracht zieht.

Mit anderen Worten: die Sänger sind sich von einer Probe zur anderen nicht ihres Fortschritts bewusst, so dass das Anhören einer Aufnahme von vor geraumer Zeit ihnen die Gelegenheit gibt, die Leistung des Dirigenten wie natürlich auch ihre eigene zu würdigen.  Das führt zu professioneller Anerkennung des Dirigenten, und die Motivierung der Sänger wird verstärkt.  Wenn wir an Chöre in Städten denken, wo wir hoffen, dass es viele Gruppen gibt, und dass der Übergang von einer zur anderen zu einem gewissen Mangel an Stabilität innerhalb eines jeden Chores führt, so kann dies als wirkungsvolles Gegenmittel zur ungewollten Abwanderung dienen.

11. Fortschritt der einzelnen Sänger

Es wäre angemessen, wenn ein ähnlicher Zugang zur Begleitung und Betonung des stimmlichen Reifungsprozess der einzelnen Sänger angewandt würde.  Sie wenden die Ratschläge und Anweisungen ihres Dirigenten in Bezug auf Stimmgebung an, vollführen Übungen wie angewiesen – Übungen, deren Nützlichkeit und Sinn sie nicht immer voll verstehen.  Das kann zu Misstrauen oder sogar Skepsis (von ihrem Standpunkt aus gesehen) führen, etwas, dem der Dirigent nur Ergebnisse entgegenstellen kann.  Diese Ergebnisse bewegen sich jedoch nur sehr langsam auf der Böschung, über die wir eben sprachen, und dadurch ist es dem einzelnen Sänger nicht möglich, eine stetige Verbesserung zu sehen.  Es ist darum sehr wirkungsvoll, wenn wir uns, zusammen mit dem Sänger, alte Aufnahmen anhören und sie besprechen, auch wenn es sich nur um ganz einfache Stücke handelt.

12. Neue Sänger

Wie behandelt man neue Sänger?  Man sollte sie nicht sofort in den verzaubernden Halbkreis schleudern, sondern sie lieber ein paar Proben lang neben den Dirigenten setzen, bevor sie endgültig in den Chor aufgenommen werden.  Hier folgen ein paar Begründungen:

a          Sie sollten die Aufnahme in den Chor als ein erstrebenswertes Ziel betrachten und vor allem als eins, das durch einige Ausbildung verdient werden muss.  Selbst wenn es sich um einen Tenor handelt und Sie dringend welche brauchen – geben Sie nicht nach!

b          Wenn man neue Sänger mitten in den Chor stellt, dann werden sie sich vorkommen, als ob sie die schlechtesten Sänger des Chores wären.  Sie werden nicht in der Lage sein, das, was sie hören, als den Klang wieder zu erkennen, der sie im Konzert, wo sie im Publikum saßen, so begeistert hat, und um dessentwillen sie nun beschlossen haben, beizutreten.  Ihre Überzeugung könnte ins Wackeln kommen, zusammen mit ihrer Begeisterung.

c          Wenn sie mitten im Chor sitzen, könnte die Konfusion der Klänge ihre unvorbereiteten Ohren dermaßen überwältigen, dass sie am Ende ihrer ersten Probe zum Dirigenten kommen und sagen, dass sie nicht glauben, dass sie das schaffen.

d          Die Versuchung, sie neben die besten Sänger zu setzen, damit sie schneller und besser lernen, richtet mehr Schaden als Gutes an: sie schafft eine Abhängigkeit, die man später nicht so leicht wieder loswird.

e          Man kann den Wert der angemessenen Komplimente an altgediente Sänger gar nicht zu hoch einschätzen, Komplimente, in denen ihre höhere Fähigkeit, verglichen mit der des Neuankömmlings, anerkannt wird.

f           Gleichermaßen werden sich die neuen Sänger ebenfalls über die Aufmerksamkeit des Dirigenten freuen; er oder sie sollte den Neuzugängen eine halbe Stunde allein gönnen, vor oder nach der Probe.

13. Raus aus der Box

Während der Probe vor einem Konzert muss man sich mit der Akustik des Saals vertraut machen, und es lohnt sich psychologisch ungemein, wenn man ein oder zwei Sänger einzeln aus dem Chor heraus nimmt, damit sie von außen einen Klang hören können, den sie nur von innen kennen.  Sie werden überrascht sein, wenn sie aus der Entfernung einen Klang und Kombinationen hören, die sie sich aus dem “Stall” des Chors nie hätten träumen lassen.  Es ist eine bekannte Tatsache, dass die beste Methode, einen Chor zu hören, darin besteht, sich ein gutes Stück von diesem zu entfernen.  (Versteht Ihr, Ihr lieben Tontechniker?  Ihr wollt die Mikrophone immer viel zu dicht an den Chor heran stellen, um dessen Präsenz zu erhöhen, aber das Ergebnis ist verminderte Homogenität!): zum Leidwesen der Sänger muss es gesagt sein, dass der schlechteste Platz für sie in ihrer Aufstellung besteht.  Wenn der Probenraum genug Platz hat, kann diese Methode auch im Rahmen normaler Proben eingesetzt werden, dass man die Sänger ein gut Stück hinter den Dirigenten setzt, jeweils ein paar von ihnen.  Das Ergebnis ist das Gegenteil des unangenehmen Gefühls, das einen überkommt, wenn man aus Entfernung den schönen Klang einer mechanischen Orgel vernimmt, und dann, je näher man kommt, das Klicken und Klappern.  Der Zauber des Klanges geht unweigerlich verloren, wenn er in Kontakt mit der unerwarteten Unbeugsamkeit der wahren Natur seines Mechanismusses kommt.  Das ist so wahr für die Orgel wie für die Geige (dies irritierende Gesurre des Bogens, wenn der die Saiten kratzt – und das auch noch so dicht am Ohr des Geigers), es trifft genau so zu für den Atem am Mundstück einer Querflöte wie eben auch auf einen Chor.  Und nun sollen wir bedenken, dass die Sänger auf ewig in den Tiefen dieses Chorkörpers gefangen bleiben, überschwemmt von einem pneumatischen, mechanischen System voller menschlicher Stimmungen und Geräusche.  Aus diesem Grund wird die Möglichkeit, den Chor von außen zu hören, große Begeisterung auslösen.

 

Ein Alphabet nützlicher Tipps für Dirigenten:

a          Markieren Sie sich in jeder Partiturzeile eine Stelle, wo man – sollte man nach einem Fehler haben abbrechen müssen – wieder einsetzen kann.  Der Chor mag es nicht, wenn Sie Zeit verschwenden mit der Suche nach einer geeigneten Stelle zum Neuanfang.

b          Reden Sie nicht zu viel, auch keine langen Erklärungen: vergessen Sie nie, dass der Chor gekommen ist, um zu singen.

c          Vor jedem Neueinsatz nach Fehlern muss vollkommene Stille herrschen: die Sänger sprechen oft miteinander (vergeblich, wenn auch gut gemeint) im Bemühen, den Fehler zu isolieren oder zu korrigieren.

d          Wenn Sie abbrechen und korrigieren mussten, sagen Sie genau, wo Sie wieder einsetzen wollen (Seite, Zeile, Takt, und nicht anders herum!).  Lassen Sie den Sängern Zeit, die Stelle zu finden (aber nicht zu viel Zeit, weil sie sonst anfangen untereinander zu reden).

e          Davon, einen Abschnitt einfach zu wiederholen, wird es nicht besser, und das korrekte Vorsingen durch den Dirigenten hilft auch nicht: die Stimmgruppe, die den Fehler machte, muss an der isolierten Phrase arbeiten.

f           Wiederholen Sie nie einen Abschnitt, ohne den Grund dafür anzugeben.

g          Achten Sie besonders auf lange Noten und auf Tonwiederholungen: dort sackt die Intonation besonders leicht ab.

h          Warten Sie, bis der Chor einen Halbton gesackt ist, bevor Sie eingreifen: die Sänger können Vierteltöne nicht hören und nicht verbessern.

i           Wenn der Chor sackt, sollten Sie die Töne zum Neuanfang einen Halbton höher angeben.  Es bedeutet, dass wir im Bereich der Registerwechsel sind, und höher anstimmen erleichtert das.

j           Kontrollieren Sie die Intonation am Ende eines Stückes: wenn der Chor abgesackt ist, dann müssen Sie weiter üben …

k          Benutzen Sie keine Stimmpfeife für A: wenn Sie zu energisch blasen, wird das A zu tief, und wenn Sie zu vorsichtig blasen, wird es zu hoch.

l           Wenn Sie wirklich das Klavier zum Angeben von Tönen benutzen wollen, dann spielen Sie nur den Grundton und bauen Sie die anderen Töne unabhängig auf: die temperierte Stimmung dämpft den Klang eines jeden Chors!

m         Wenn die Probe lang ist, lassen Sie den Chor gelegentlich einen Abschnitt oder sogar ein ganzes Stück im Stehen singen.

n          Studieren Sie ein langsames Stück ein, indem Sie es in einem schnelleren Tempo singen lassen: das erleichtert den Sängern das Auswendiglernen. 

o          Passen Sie bei Oktavsprüngen auf: diese werden oft unsauber gesungen, weil sie, im Unterschied zu Quarte und Quinte, kein Ziel haben.

p          Bei Stücken im 6/8 oder 6/4 oder 9/4 Takt usw., wo die Zählzeit eine Triole ist, muss man aufpassen: Chöre schleppen da leicht. 

q          Wenn Sie die rhythmischen Verwobenheiten eines Stückes hervorheben möchten, ersetzen Sie den Text mit der Silbe Linn für jede Note: Sie werden alle angenehm überrascht sein.

r           Wenn Sie sehen, dass die Sänger krumm sitzen, müssen Sie etwas finden, um ihr Interesse neu zu beleben.  Vielleicht haben Sie zu viel geredet.

s          Singen Sie nicht ständig mezzoforte.  Und wenn Sie piano haben möchten, legen Sie nicht Ihren Finger an den Mund mit dem anderen Arm weit ausgestreckt: eine kleine Geste reicht. 

t           Versuchen Sie, ein Metronom zum Taktschlagen zu benutzen, und stellen Sie es dann ein paar Takte lang auf lautlos: wenn Sie nicht genau mit ihm zusammen sind, wenn es wieder angeht, überlegen Sie sich dreimal, bevor Sie das nächste Mal zu Ihrem Chor sagen: “Singt um Himmels Willen im Takt!”

u          Schlagen Sie lieber zwei als vier?  Selbst für Mozarts “Ave verum”?  Was sind Sie schlau!

v          Betrachten Sie Ihre linke Hand als eine Gelegenheit, nicht als noch ein Hindernis, mit dem man sich auseinandersetzen muss!

w         Wenn Sie den Klang Ihres Chores im Schnellstverfahren verbessern wollen, bringen Sie ihm Bauchatmung bei!

x          Lassen Sie es nie an Begeisterung fehlen.  Sie steckt aaaaaaaan!

y          Die alte Redensart stimmt immer: der Dirigent muss die Partitur im Kopf haben, nicht den Kopf in der Partitur.  Dies gilt auch für die Sänger. 

Abschließend – wir Dirigenten sollten unser Gewissen ins Gebet nehmen.  Am Ende einer schwierigen und anstrengenden Probe, nachdem wir so viel von unseren Sängern verlangt haben, manchmal mehr, als sie in der Lage sind zu geben, dann ist unsere Belohnung die Freude darüber, dass wir ein wirklich gutes Endergebnis erzielt haben, selbst wenn es sich um einen Abschnitt handelt, der nur zwei oder drei Sekunden dauert.  Aber können das auch die Sänger sagen?  Oder müssen sie sich mit unserer Zufriedenheit zufrieden geben, im blinden Vertrauen darauf, dass sie ein ausgezeichnetes Ergebnis erzielt haben, das die Abgelenktesten unter ihnen vielleicht nicht einmal gehört haben?  Sollte unser “Danke” für sie genug sein, selbst obwohl wir manchmal vergessen, das zu sagen?  Vielleicht vergessen wir, dass unsere Motivierung strikt musikalisch ist, während die, die einen Sänger in die Richtung schubst, dass er seine Familie verlässt, um zur Probe zu kommen, weitgehend soziologisch ist, und dass er deshalb verletzlicher ist, vermutlich schwächer, was die Widerstandsfähigkeit und die Entschlossenheit angeht.  Es besteht kein Grund, besonders hervorzuheben, wie der psycho-soziale Aspekt einen unabdingbaren Teil des Musizierens mit einem Chor darstellt.  Wenn es nur nicht die Tatsache gäbe, dass der Dirigent nicht auf Gegenständen aus Holz und aus Metall spielt, sondern dass er die Herzen, die Empfindlichkeiten und die Seelen von so vielen bewegt.

 

Walter Marzilli studierte in Italien und in Deutschland.  Er ist Mitglied einer Reihe künstlerischer und wissenschaftlicher Kommissionen in Italien und in anderen Ländern.  Als Musikwissenschaftler und Chorleiter ist er in die Vereinten Staaten, nach Brasilien, in den Libanon, nach England, Spanien, Deutschland, in die Schweiz, nach Holland, Polen und Ungarn eingeladen worden.  Er hat zahlreiche Artikel in Konferenzprotokollen und Fachzeitschriften veröffentlicht.  Er dirigiert den Polyphonischen Chor des Päpstlichen Instituts für Kirchenmusik in Rom, das I Cantori ensemble des Päpstlichen Instituts für Kirchenmusik, die Madrigalisten von Magliano in der Toskana und den Giacomo Puccini Chor in Grosseto.  Er hat das L’Ottetto Vocale Romano, Il Quartetto Amaryllis, den Regionalchor von Kalabrien und L’Ensembler Octoclaves der Sixtinischen Kapelle dirigiert, mit dem er eine CD aufgenommen hat.  Er ist künstlerischer Berater der Deutschen Grammophon in Bezug auf Aufnahmen des Chors der Sixtinischen Kapelle, einer Institution, mit der er routinemäßig zusammen arbeitet.  Er ist Professor an der University of Notre Dame of South Bend, Indiana-USA, und Professor für Chorleitung am G. Canteli Konservatorium in Novara.  Er unterrichtet Psycho-Akustik am Mittelmeer-Zentrum für Kunst-Therapie, besitzt den Magister in Musiktherapie und hat Chormusik am F. Cilea Konservatorium der Reggio Calabria unterrichtet.  Er ist Gesangslehrer am Sedes Sapientiae International College in Rome, wo er auch die Musikabteilung leitet, und er hat am Pontifical French Seminary, dem Pontifcal College of Saint Paul und an der Italian Academy of Opera unterrichtet.  Er hat das italienische Zentrum Ward Method of Musical Instruction geleitet.  Seit 1987 hat er Stimmkunde und Chorleitung für die Italian Association S. Cecilia unterrichtet.  Seit 1991 hat er den Lehrstuhl für Chorleitung am Päpstlichen Institut für Kirchenmusik in Rom inne.  E-Mail: marzilliwalter@gmail.com

 

Übersetzt aus dem Italienischen ins Englische von Jessica Hebden, UK

Redigiert von Theresa Trisolino, UK, Gillian Forlivesi Haywood, Italien, und Irene Auerbach, UK

Übersetzt aus dem Englischen von Irene Auerbach, UK

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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