Scheinwerfer auf Schottland

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Graham Lack, Komponist und beratender Redakteur des ICB

 

Soweit ich weiß, hat sich das ICB noch nicht mit der Musik Schottlands beschäftigt. Es gibt einen Reichtum an Musik zu entdecken, und ich hoffe, dass dieses kurze Schlaglicht auf das Land nützlich sein wird für Chorleiter, die Werke von „nördlich des Randes“, wie wir Engländer das gerne sagen, in ihre Programme aufnehmen wollen. Wir danken Alan Taverner, Katy Cooper und Meg Monteith für hilfreiche Beiträge und allgemeine Informationen. Dank auch an Christopher Glasgow vom Scottish Music Centre für seine großzügige Hilfe, Beratung und Kontakte.

Der erste Artikel betrachtet Robert Carver, einen schottischen Mönch, der im frühen 16. Jahrhundert an der Scone Abbey arbeitete. Seine Motetten und Messen bilden eine kostbare Verbindung zum Repertoire des Eton Choir Book, jener spektakulären Fundgrube der frühen englischen Renaissancemusik. Carvers O bone Jesu, geschrieben um 1546, hat nicht weniger als neunzehn Stimmen, Beleg für einen ungewöhnlich virtuosen Stil. Viele Werke in möglicherweise einer renitenten Tradition [d.h. einer Tradition, die sich der anglikanischen Reform verweigerte, Anm. d. Übers.] nicht mehr erhalten sind.

Aus komplexen historischen Gründen und Problemen mit der Musikrezeption haben die Britischen Inseln im 18. Und 19. Jahrhundert wenig gute Musik anzubieten. Das Zentrum des Musikschaffens hatte sich längst ins kontinentale Europa verlagert. Es besteht also ein Mangel an wertvoller Chormusik von schottischen Komponisten, und das gleiche gilt für Wales, England – mit Ausnahme von Henry Purcell (1659-1695) – und der grünen Insel.

So werden im zweiten Artikel Chorarrangements schottischer Volkslieder betrachtet. Während eines großen Teils des 20. Jahrhunderts waren solche Stücke in ganz Großbritannien beliebt. Zwei prominente Figuren, die auf diesem Feld arbeiteten, waren Hugh S. Roberton und Cedric Thorpe Davie.

Das Anliegen der Chormusik und der Avant-garde blieben im Nachkriegsschottland nicht unbemerkt, und Peter Maxwell Davies muss erwähnt werden, einer der Gründer der Manchester New Music Group, dessen St. Magnus Festival auf den Orkney Inseln seit Ende  der 1970er Jahre sehr erfolgreich ist.

Der dritte Beitrag schließlich sieht sich die Chormusik der zeitgenössischen schottischen Komponistin Judith Weir an. Sie hat sich inzwischen fest etabliert, hat dem a cappella Repertoire viele wertvolle Werke hinzugefügt (Two Human Hymns für Chor und Orgel sollten hier besonders erwähnt werden) und eine Reihe von Chorwerken mit Instrumentalbegleitung komponiert. Ihre Hauptwerke bleiben aber wohl Opern und schließen A Night at the Chinese Opera und aus jüngerer Zeit Miss Fortune ein.

 

Robert Carver: Schottlands Meister der Polyphonie

Alan Taverner, Dirigent und Organist

Das kleine, aber verlockende Repertoire der schottischen Renaissancemusik, die die Reformation überlebte, wird angeführt von der jauchzenden, spätmittelalterlichen dekorierten Musik von Robert Carver. Über den Mann selbst ist wenig bekannt, und die Eintragungen auf dem erhaltenen, als authentisch erklärten Manuskript seiner Musik führen zu mehr Diskussionen als Erkenntnis bei den Musikwissenschaftlern Kenneth Elliott (dessen Werk über Carvers Musik aus den 1950ern stammt) und später, in den 1980ern, Isobel Woods Preece. Kürzlich jedoch hat D James Ross Carvers Namen in den Aberdeener Bürgerregistern von 1505 entdeckt, zusammen mit dem Titel ‚Kanonikus in Scone‘, in Zusammenhang mit seinem Onkel mütterlicherseits Sir Andrew Gray (der 1484 in den Aufzeichnungen als Kaplan von St. Nicholas bezeichnet worden war und anschließend als Geldgeber für eine Messe im Namen Jesu genannt wird) und leitet daraus überzeugend ab, dass Carvers Geburt und musikalische Ausbildung in dieser Stadt erfolgten. Zusammenfassend, und verbunden mit Roger Bowers Anmerkung hinsichtlich der Datierung alten und neuen Stils, können wir ziemlich sicher sein, dass Carvers Lebensdaten 1487/8 – c.1568 sind.

Unter den Stewart Königen genossen die höheren Kreise der schottischen Gesellschaft während des 15. und 16. Jahrhunderts eine wahrlich reichgeförderte kulturelle Renaissance, obgleich diese Ära durch militärische Katastrophen von Seiten der Engländer turbulent war. James IV. verschwendete weiterhin Mittel an ihre königliche Kapelle im Schloss zu Sterling, und aus zeitgenössischen Berichten ist zu erfahren, dass die Kapelle sich einer virtuosen Chorgruppe und dreier Orgeln rühmte, wie auch einer prächtigen Musikbibliothek, die 1505 vier Chorbücher mit goldener Schrift besaß. Aber keine der Musikbücher oder Manuskripte überlebte die Auflösung der königlichen Kapelle 1559 durch den protestantischen Pöbel und die anschließenden Jahrzehnte der Vernachlässigung, als das Feiern der Messe verboten war. Vor diesem Hintergrund lebte und arbeitete Carver.

 

Carver Choirbook Adv.MS.5.1.15, fol.28 recto
Carver Choirbook Adv.MS.5.1.15, fol.28 recto
Carver Choirbook Adv.MS.5.1.15, fol.135 recto Acknowledgement is made to the Trustees of the National Library of Scotland
Carver Choirbook Adv.MS.5.1.15, fol.135 recto Acknowledgement is made to the Trustees of the National Library of Scotland

 

Wir sind jedoch glücklich, dass ein Chorbuch, das der Bibliothek vermutlich kurz nach der Inventarisierung 1505 hinzugefügt wurde, wie durch ein Wunder – fast unversehrt – den Klauen der antikatholischen Fanatiker entkam, die Vernachlässigung der folgenden Jahrhunderte überlebte und, erstaunlicherweise, in der Rechtsanwaltsbibliothek in Edinburgh auftauchte. Es enthält die vollständigen bekannten und als echt anerkannten Werke von Carver, dem selbsternannten ‚Kanonikus von Scone‘ (das Augustinerkloster, etwa 50 km nordöstlich von Stirling), obwohl die künstlerische Qualität der Musik vermuten lässt, dass er für die königliche Kapelle schrieb, bei der er möglicherweise ausgedehnte Urlaubsphasen verbrachte. Ursprünglich als das Stone Antiphonary bekannt, liegt es nun in der schottischen Nationalbibliothek in Edinburgh als Carver Choirbook zu Ehren des Komponisten, der den größten Teil seines Inhalts schrieb: fünf Fassungen der Messe und zwei Motetten darin sind von Carver signiert, und eine Messe für drei hohe Stimmen könnten ihm auch zugeschrieben werden. Außer Messen, Magnificats und Motetten, deren Komponisten nicht bekannt sind, gibt es auch Werke von dem franko-flämischen Meister Guillaume Dufay (was die Theorie stützt, dass Carver in den Niederlanden studiert haben könnte) und Motetten, die William Cornysh und Robert Fayrfax zugeschrieben werden können (weil sie auch im etwa zeitgleichen Eton Choirbook erscheinen, der reichen Quelle englischer spätmittelalterlicher und früher Renaissance-Polyphonie, das wahrscheinlich in Schottland erschien, als James IV. 1505 den Vertrag Nichtendenden Friedens besiegelte durch seine Heirat mit Margaret Tudor, der Tochter des zukünftigen Henry VIII.). Eine weitere ihm zugeschriebene sechsstimmige Messe kann neben Werken aus England, Frankreich und den Niederlanden in den Douglas-Fisher Partbooks [Stimmheften, Anm. d. Übers.] in der Universitätsbibliothek in Edinburgh gefunden werden.

Für das früheste Werk Carvers, die Messe Dum sacrum Mysterium, gibt es widersprüchliche Kompositionsdaten 1506/08/11/13, vielleicht beziehen sie sich auf das Datum der Uraufführung und folgender Aufführungen. Sie ist für zehn Stimmen geschrieben (modern betrachtet 2S, 2A, 2T, 2 Bar, 2B). Wie auch drei der anderen Messen ist sie eine cantus firmus Komposition mit der Melodie des Magnificat-Antiphons für das Fest des Erzengels Michael. Der Cantus ist bei Carver in langen Noten ausgelegt, der zu einem sehr langsamen Akkordwechsel führt und auch zur Folge hat, dass benachbarte Akkorde in regelmäßigem und gleichmäßigem Wechsel erfolgen. Möglicherweise dem gleichen Phänomen geschuldet, das in viel der schottischen Volksmusik überlebt hat in Form einer sogenannten Wechseltonika. Insgesamt ist die  Messe konzipiert nach der festen Tradition mit wechselnden Abschnitten für kleine Gruppen, die vom cantus firmus frei sind und solchen für den vollen Chor, die über den cantus firmus konstruiert sind. Isobel Woods Preece hat auf die Möglichkeit hingewiesen, dass großräumige vokale Improvisation mit durchaus zehn Stimmen gleichzeitig übliche Praxis in Schottland gewesen sein könnte: es ist auf jeden Fall eine reizvolle Erklärung für Carvers Vorliebe für vielstimmige Musik (eine der beiden Motetten ist für 19 Stimmen geschrieben), und es würde auch Cravers bemerkenswerte Toleranz für dissonante Durchgänge erklären. Das späteste Datum, das dieser Messe zugeschrieben wird, könnte damit zusammen hängen, dass sie verwendet wurde für die Krönung des Säuglings König James V., die nach kurzer Ankündigung (in Folge der katastrophalen Niederlage seines Vaters in der Schlacht von Flodden) am 29. September 1513 stattfand, dem Fest des Erzengels Michael (St. Michael war der Schutzengel des schottischen Königshauses.). Die aufwendige Gestaltung der Messe und der Bezug des cantus firmus erhöhen die Plausibilität dieses Gedankenganges.

Die Tatsache, dass Carver bereits in einem reifen Stil schrieb, lässt auf unbekannte Einflüsse schließen. Während es offensichtlich ist (wenn durch nichts Anderes, dann durch den Inhalt des Carver Choirbook), dass er in Verbindung mit zeitgenössischen musikalischen Entwicklungen in England und dem europäischen Festland stand, können wir über das regionale Erbe in seiner Musik nur spekulieren: einerseits aufgrund der Stärke seiner eigenen Arbeit und andererseits auf der irgendwelcher überlieferter Musik, die ihr voranging. Aber wir haben nur wenige Belege dafür, in welche schottische Tradition der Kirchenmusik Carver hineingeboren wurde: ein Manuskript aus dem 13. Jahrhundert hat überlebt, mit zweistimmiger Polyphonie, verbunden mit der Kathedrale von St. Andrews (katalogisiert als Wolfenbüttel 2), herausragend durch außerordentliche Virtuosität, riesigen Stimmumfang und beträchtliche Ansprüche an vokale Flexibilität: vielleicht ein Versuch, die neuesten französischen Kompositionstechniken wie bei Perotin und Leonin mit einem heimischen Strang höchst ausgeschmückter vokaler Improvisation zu versöhnen. Das könnte, wie auch die improvisierte Musik der keltischen Spielleute, von denen man weiß, dass sie unter dem Schutz von James IV. am schottischen Hof lebten, eine Erklärung sein für den dekorativen Charakter von Carvers Musik drei Jahrhunderte später. James IV. spielte selbst die keltische Harfe oder Clarsach (im Gegensatz zu seinem Sohn James V., der, wie die meisten seiner europäischen königlichen Zeitgenossen, die Laute spielte). Dies ist besonders wichtig im Licht der folgenden Ereignisse, die nicht nur das Ergebnis hatten, das niedergeschrieben Musikerbe zu zerstören, sondern in der Folge auch das praktische musikalische Erbe.

Was zeichnet Carvers Musik aus? Die Meinungen gehen weit auseinander und reichen von denen, die bemüht sind, einen einheimischen schottischen Stil nachzuweisen bis zu jenen, die ihn als im Wesentlichen europäisch betrachten. Ich entdecke in Details der Verzierungen Ähnlichkeiten mit dem Werk Antoine Brumels, während Carver in seiner Messe für fünf Stimmen, einem späteren Werk, die glatte imitatorische Technik von Josquin des Pres anzunehmen scheint. Das Schreiben für hohe Diskantstimmen, das so charakteristisch ist für das Repertoire des Eton Choirbook, ist deutlich erkennbar in Carvers früheren, umfangreichen Werken, während die Sopranlinie in anderen Werken relativ bescheiden ist. Auffällig ist die erweiterte Behandlung der Worte „in nomine Domini („im Namen des Herren“) in den Benediktus-Sätzen seiner Messen, die eine Neigung für die Hingabe seines Onkel an den Namen Jesus spiegeln könnte. Das wird sicherlich bestätigt durch die riesigen 19stimmigen ´Säulen´, die durch die ganze  Motette O bone Jesu hindurch dröhnen.

Und wie steht es heute um Carvers Musik? Sie war ursprünglich gedacht für einen Berufschor mit höchsten Fähigkeiten, und es ehrt kompetente Kammerchöre, die auf Alte Musik spezialisiert sind, dass sie die vielen Herausforderungen der Musik bewältigen konnten. Man kann jedoch nicht darüber hinweg sehen, dass die reduzierten Texturen kompliziert und verzwickt sind und eigentlich auf solistische Darstellung hinweisen, die nicht nur die intensive Musikalität von Instrumentalisten, sondern auch eine gusseiserne vokale Technik erfordert.  Zu Beispielen, wie Carver heutige Künstler inspiriert, gehören James MacMillans dreisätziges Tenebrae Responsories das sich deutlich auf Carvers virtuosen Stil bezieht (vielleicht ein Zeichen des Dankes an seinen Auftraggeber, Cappella Nova), Während Ronald Stevenson James Reid-Baxters Gedicht In Memoriam Robert Carver für 12stimmigen Chor vertonte.

Die Lehrbücher neigten dazu, Robert Carver als den einzigen  bekannten britischen Komponisten zu betrachten, der das mittelalterliche französische Kreuzzüglerlied L´Homme arme als cantus firmus für eine Messe verwendete. Zweifellos inspiriert von Dufays Behandlung dieser Melodie, die um 1506 in das Carver Choirbook kopiert wurde, ist es ein Tribut an die internationale Achtung, die Schottland zu dieser Zeit genoss. Als Übung in musikalischer Technik ist es Carvers selbstbewussteste, und wir finden den cantus firmus im Dreiertakt ´mit´ den anderen Stimmen im Zweiertakt; in doppelter Zeit ´mit´ nur einem halben Pulsschlag den anderen Doppeltaktstimmen voraus; in einem Dreiertakt-Kreuzrhythmus ´mit´ den anderen Doppeltaktstimmen, und das Ganze schließlich in einen weiteren Dreiertaktkreuzrhythmus ´gegen` die anderen Stimmen gewendet. Dieses umwerfende Beispiel technischer und kompositorischer Meisterschaft lässt uns nur rätseln, was Carver der Komponist sonst noch leistete – eine Frage, von der wie hoffen, dass sie eines Tages durch die Wiederentdeckung weiterer seiner Werke beantwortet werden kann.

 Carvers Werke sind veröffentlicht bei Musica Scotica (Band I: “The Complete Works of Robert Carver & two anonymous Masses” herausgegeben von Kenneth Elliott, ISBN 0 9528212 0 6) und wurde von Cappella Nova aufgenommen: 

www.cappella-nova.com.

 

Alan TavenerAlan Tavener ist Mitbegründer und Dirigent des in Schottland ansässigen Berufsvokalensembles Cappella Nova, das international auftritt und 12 CDs veröffentlicht hat. Er hat sich auf das Dirigat der Werke von Robert Carver spezialisiert. Darüber hinaus hat er mehr als 60 Welturaufführungen von Chorwerken dirigiert, die von 3-minütigen a cappella Stücken bis zu großen Werken reichen, darunter John Taverners Resurrection mit dem Scottish Chamber Orchestra, das anschließend von BBC Radio 3 gesendet wurde, und James MacMillans Seven Last Words from the Cross mit dem BT Scottish Ensemble, von BBC2 in Form von sieben Filmen gesendet. Zu jüngsten Projekten gehörten ein Meisterkurs für Studenten der Chorleitung am Moskauer Konservatorium, die Leitung von Workshops beim Kongress 2010 der Association of British Choral Directors und ein Vortrag Health and Wellbeing through Song [Gesundheit und Wohlbefinden durch Singen] bei der Making Music Konferenz 2011. Alan lebt seit 1980 in Glasgow und ist Organist und Chordirektor der Jordanhill Parish Church (wo er einen Gemeindechor und einen liturgischen Chor gebildet hat) und Dirigent des Kammerchors der Strathclyde Universität (für den James MacMillan 11 seiner 14 Strathclyde Motets komponierte).

Email: alan.cappella-nova@strath.ac.uk

 

Die Verwendung des Volksliedes in der schottischen Chormusik

Katy Cooper, Chorleiterin, Arrangeurin, Lehrerin und Musikwissenschaftlerin

 Die schottische Volksmusik hat seit langem das Interesse der Welt auf sich gezogen. In diesem Artikel möchte ich einige Arrangements und vom Volkslied beeinflusste Werke von schottischen Komponisten oder solchen mit schottischen Wurzeln vorstellen. Ich beginne mit frühen Begeisterten aus der Zeit der ersten Wiederentdeckung des Volksliedes.

Man sagt, dass die Volksmusik in Britannien zur Zeit eine Art Wiederentdeckung erlebt. Von Volksmusik beeinflusste Bands und Künstler wie Mumford and Sons erscheinen regelmäßig in den Charts, und die Einrichtung von Studiengängen für traditionelle Musik gibt Musikern im Vereinigten Königreich die Möglichkeit, sich auf diesem Niveau mit dem Genre zu beschäftigen. Die Popularität von Volksliedbearbeitungen wurde während einer früheren Wiederentdeckung des Volksliedes begründet, als Komponisten wie Vaughan Williams nicht nur Lieder arrangierten (einschließlich solcher aus Schottland), sondern auch als aktive Mitglieder der ´Folk Song Society´ (1898 gegründet) Material sammelten.

Frederick Keel weist in seinem Artikel von 1948 in der Zeitschrift der später als English Folk Dance Song Society bekannt gewordenen Organisation darauf hin, dass sie sich zu Beginn „allen Versuchen widersetzte, ihr Arbeitsfeld einzuengen oder den Namen ´English´ oder ´Britisch´ zu verwenden“. Vielmehr wurde sie gegründet als „eine Volksliedgesellschaft, die in England angesiedelt war, nicht als eine zum Erhalt des englischen Volksliedes“. In der Tat war Sir Alexander MacKenzie, ein herausragender und einflussreicher schottischer Komponist, eines der ersten Mitglieder der Organisation. MacKenzie gab mehrere Sammlungen traditioneller schottischer Lieder heraus, arrangiert für Klavier, aber seine Chorwerke schließen offensichtlich keine Bearbeitungen schottischer Lieder ein. Ähnlich gehören zu den Chorwerken von Hamish MacCunn, berühmt für sein beschwörendes Land of the Mountain and of the Flood, die Four Traditional Scottisch Border Ballads für Chor und Orchester, aber keine Arrangements für kleinere Ensembles. Viel schottische Chormusik aus dieser Zeit ist nun vergriffen und wenig bekannt bei modernen Chören, aber das Suchen in Bibliotheken und Archiven wie dem Scottish Music Center und auch in mehreren online-Quellen lohnt sich sehr.

Mackenzie war nicht der einziger schottische Musiker, der an der Arbeit der Folk Song Society beteiligt war. In den folgenden Dekaden sammelten die schottischen Enthusiasten George Barnet Gardiner und Francis Collinson traditionelles Material in Schottland und England. Später arrangierte der erste Assistent für Musikwissenschaft an der School of Scottish Studies in Edinburgh viele schottische Lieder, unter anderen The Flowers of the Forest, Bonny Dundee und The Bonnie Lass of Albany. Einige wenige von ihnen wurden veröffentlicht, aber viele von ihnen sind nur im Originalmanuskript erhalten.

Collinson sammelte und arrangierte auch gälische Lieder für Chor, zurück zu führen auf die zunehmende Beliebtheit gälischer Chöre, die man in den 30ern in ganz Schottland finden konnte. Der erste von ihnen war der St. Columba Choir in Glasgow, 1874 gegründet. Die Bewegung wurde gefördert durch die Gründung (1891) und anhaltende Beliebtheit des ´National Mod´, angelegt nach dem Vorbild des chorisch reichen Eistedfodd in Wales [beides Chorbegegnungen, Anm. der Übers.] Das folgende Jahrhundert hat ein reiches und vielseitiges Repertoire an gälischer Chormusik hervorgebracht, das außerhalb gälischer Chöre kaum bekannt ist. Links zu Quellen einschließlich Notenausgaben sind zu finden auf der Webseite von ´Comunn nan Còisirean Gàidhlig’(Gaelic Choirs’ Association: www.gaelicchoirs.org.uk).

Das frühe zwanzigste Jahrhundert sah nicht nur für gälische Chöre Erfolg – der weltberühmte Glasgow Orpheus Choir unter Leitung seines Gründers Hugh S. Roberton machte Millionen von Menschen in aller Welt mit schottischen Volksliedern bekannt, viele von ihnen (oder eigentlich die meisten) von Roberton selbst arrangiert. Internationale Tourneen und Aufnahmen spielten auch eine wichtige Rolle. Roberton schrieb auch die Texte zu so berühmten Liedern wie Westering Home und die englische Fassung von Mhairi’s Wedding, nach dem Original in Gälisch. Der stilisierte und (heute) nostalgische Klang des Chors zusammen mit den schlichten, deklamatorischen Arrangements Robertons machen die Lieder außerordentlich singbar, und sie beschwören ihre Zeit herauf.

Volksliedbearbeitungen blieben während des ganzen zwanzigsten Jahrhunderts eine beliebte Wahl bei Chören, und Komponisten schrieben sowohl Sätze zu den Liedern als auch neue Kompositionen, die sich auf traditionelles Material bezogen oder von ihm beeinflusst waren. Cederic Thorne Davies ´fröhliche Tonalität´ erbrachte viele beliebte Arrangements, einschließlich Wettbewerbsstücken für das National Mod, und größerer Werke, die das Volkslied einschließen. Die nächste Generation schottischer Komponisten, darunter Ronald Stevenson, Thomas Wilson und später Peter Maxwell Davies, war stark von schottischem Material beeinflusst und schrieb – und schreibt – einige außergewöhnliche Stücke, wenn auch nur wenige einfache Arrangements sind. Stevensons Chormusik zum Beispiel enthält eine Motette zur Erinnerung an den schottischen Renaissancekomponisten Robert Carver, das eckige A Medieval Scottisch Triptych, und das vom Volkslied inspirierte, großformatige Werk für Orchester und Chor In praise of Ben Dorain.

So, wie die Chöre der Vergangenheit viele Chorarrangements anregten, so vergeben Schottlands Chöre und Chororganisationen weiterhin Aufträge und schaffen neue Sätze. Das wohl wichtigste Beispiel ist der Verlagszweig der National Youth Choirs of Scotland. Ihre Publikationen für junge Sänger, darunter die SilverSing und SingGold Bände, enthalten Arrangements und neue Chorwerke von u.a. den Komponisten Sally Beamish, William Sweeney, Eddie McGuire, John Maxwell Geddes und Ken Johnston. Johnstons enge Verbindung zu NYCOS hat auch volkstümliche Arrangements hervorgebracht, darunter temperamentvolle Fassungen von Robertons Westering Home und Air Falalalo.

Der wohl prominenteste schottische Komponist, der heute für Chor schreibt, ist James MacMillan, dessen unverwechselbarer Chorstil durchtränkt ist von Einflüssen seines schottischen Erbes. Dieser Einfluss ist zu sehen in So Deep, einem ungewöhnlichen Satz auf das Gedicht My Love is like a red, red Rose von Robert Burns und The Gallant Weaver.

Als Begeisterte für Volksmusik und als Sängerin fühle ich mich hingezogen zu zwei Welten. Mehrstimmiges Singen, freiwillig und spontan, ist mein Lieblingscharakteristikum traditioneller Singstunden in Schottland und dem Rest des Vereinigten Königreiches, und viele Gemeindechöre beziehen es in ihr Repertoire ein. Ich glaube auch, dass es Platz gibt für die Chorarrangements des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die nachdenkliche Vertonungen von Worten anbieten. Es gibt auch Platz für MacMillans jüngere Nachempfindungen von Burns. Die bauen wirklich auf Volksmaterial und benutzen den Chor auf fantasievolle Weise, um die Melodielinie zu unterstützen.  Für mich ist die Praxis, Volkslieder zu arrangieren, eine Tradition aus eigenem Recht, eine mit einer reichen Geschichte und, wenn man die heutige Wiederentdeckung ansieht, auch mit einer faszinierenden Zukunft.

 

Katy Cooper

Katy Cooper ist Chorleiterin, Arrangeurin, Lehrerin und Musikwissenschaftlerin. Sie hat an den Universitäten von Aberdeen, Strathclyde und Glasgow unterrichtet, wo sie ihre Promotion abschließt. Katy wurde bei Sing for Pleasure als Chorleiterin ausgebildet und ist nun deren Ausbilderin von Dirigenten und Redakteurin ihres Newsletters. Katy leitet die Glasgow Madrigirls (madrigirls.org.uk), Cathures (cathures.org.uk), Happy Voices (ein Kinderchor) und Betriebschöre bei Glasgow Life und John Lewis (Edinburgh). Katy singt im Sine Nomine International Touring Choir, Glasgow, dem Glasgow University Chapel Choir, Sang Scule (sangscule.org.uk) und den Volksharmoniegruppen Muldoon’s picnic (muldoonspicnic.org.uk) und The Crying Lion. Eine Sammlung von Katys Chorarrangements wurde 2011 von Sing for Pleasure veröffentlicht.

Email: katylaviniacooper@googlemail.com

 

Intimität mit Abstand

Die Chormusik von Judith Weir

Graham Lack, Komponist und beratender Redakteur des ICB

Die Musik von Judith Weir lebt in einer merkwürdigen Welt. Ihr Stil ist intim, fühlt sich aber irgendwie fremd an, auch wenn Zuhörer das Gefühl haben, dass sie sie kennen und zu verstehen gelernt haben. Ihre Chorwerke bieten einigen verblüffende Texturen an und haben recht befriedigende Klänge zum Ergebnis, solche, die gemildert sind durch nicht geringe Zurückhaltung. Was auch immer sie aber schreibt: die Musik dient dem emotionalen Gehalt des Textes, den sie bearbeitet.

Der Einsatz der Orgel in Ascending into Heaven enthüllt den Einfluss ihres Lehrers, Olivier Messiaen. Das Stück wurde 1983 abgeschlossen und bearbeitet einen lateinischen Text von Hildebert de Lavardin (1056-1133). Die Rolle der Orgel ist überraschend – in all ihrer Musik ist Weir stets bereit zu überraschen – und ähnelt mehr einem Orchester als irgendetwas anderem. Tatsächlich tut sie viel mehr als zu kommentieren, und Weir verwendet sie nicht, um bloß einen Teil des Werkes mit dem nächsten zu verbinden. Chöre werden sich freuen über die Direktheit der Schreibweise für Chor, die positiv modern, aber sehr zugänglich ist.

Ihr Drop down ye Heavens wurde für den Chapelchor von Trinity College, Cambridge, geschrieben und 1983 uraufgeführt. Sie nimmt Worte aus den Adventstexten und präsentiert einen perfekten, funkelnden Hymnus. Das ist Weir, äußerst elegisch.

 

Judith Weir: ‘Drop down ye heavens’, Takt 11-Ende

(Click on the image to download the full score)

 

Drop Down Ye Heavens From Above Traditional Words — Music by Judith Weir © Copyright 1984 Chester Music Limited. All Rights Reserved. International Copyright Secured. Used by permission
Drop Down Ye Heavens From Above Traditional Words — Music by Judith Weir © Copyright 1984 Chester Music Limited. All Rights Reserved. International Copyright Secured. Used by permission

 

Ein anderes Auftragswerk aus Cambridge war Illuminare, Jerusalem, in Auftrag gegeben von dem renommierten Chor von King’s College, der es 1985 bei dem berühmten Gottesdienst “nine Lessons and Carols“ [ein Gottesdienst am Heiligabend mit neun Lesungen und neun Weihnachtsgesängen, der seit Jahrzehnten Tradition ist und vom englischen Rundfunk übertragen wird, Anm. d. Übers.] zur Uraufführung brachte. Der Text ist gallisch, und Weir gelingen einige dichte harmonische  Momente inmitten lebhafter Rhythmen.

Ihre vielleicht reizvollsten und, im besten Sinne des Wortes, bis heute beliebtesten Chorwerke sind die beiden Two Human Hymns, ein Auftrag der Universität von Aberdeen für deren Fünfhundertjahrfeier 1995. Weir vertont Worte von George Herbert wie auch von Henry King, einem anderen Dichter des siebzehnten Jahrhunderts. Die Musik ist sehr lyrisch, in scharfem Kontrast zu einer Orgelstimme, die den harmonischen Fortschritt ständig unterbricht. Das Ergebnis ist ein bemerkenswertes Gefühl der Spannung. Die Orgelepisoden im zweiten Satz sind unverhohlene Toccaten. Den ersten Satz des Paares, ´Love Bade Me Welcome´, hat die Komponistin zwei Jahre später für a cappella Chor umgearbeitet.

 

Judith Weir: ‘Love bade me welcome’ (a cappella Version), Takte 1-14

(Click on the image to download the full score)

 

Love Bade Me Welcome Words by George Herbert — Music by Judith Weir © Copyright 1997 Chester Music Limited. All Rights Reserved. International Copyright Secured. Used by permission
Love Bade Me Welcome Words by George Herbert — Music by Judith Weir © Copyright 1997 Chester Music Limited. All Rights Reserved. International Copyright Secured. Used by permission

 

My Guardian Angel, das 1997 vom Spitalfields Festival in Auftrag gegeben wurde, könnte man für einen ziemlich einfachen Gesang halten. Aber bei Judith Weir versteckt Schlichtheit recht subtile Schwierigkeiten. Jeder Chor, der sich an dieses Stück heranwagt, wird von Probe zu Probe gewiss die Tiefe des harmonischen Denkens bemerken.

Vertue wurde ebenfalls für das Londoner Spitalfields Festival geschrieben und dort 2005 uraufgeführt. Die Komponistin vertont drei Gedichte von George Herbert und zeigt eine kompositorische Resonanz, die recht streng ist in ihrer Direktheit  und der Verwendung einer harmonisch kargen musikalischen Sprache. Hier ist Weir am nachdenklichsten, und eine engagierte Zuhörerschaft wird ihre musikalische Stimme genau hören.

Ihre Vertonung des Psalms 148 war ein Auftrag für die 800-Jahrfeier der Universität von Cambridge. Die Besetzung ist etwas ungewöhnlich: Chor und Posaune. Sie gibt dem Instrument jedoch nicht einfach nur eine Basslinie, sondern zwingt es, dem Chor einigen strammen Kontrapunkt entgegen zu setzen. Irgendwie gelingt es ihr, einen Satz zu erzielen, der unverhohlen hymnisch, dabei jedoch merkwürdig introvertiert ist. Die Klänge sind karg und Teil einer distanzierten Klangwelt, die in ihren eigenen Träumen verloren ist. Mit nur einem gelegentlichen Nicken gegenüber der Sentimentalität des Textes fährt Weir einen Kurs durch gefährliche harmonische Wasser und erlaubt der motivischen Arbeit auf der Oberfläche der Komposition den Zuhörer von einer Tonalität zur nächsten zu nehmen.

Ein Dichter, den Weit offensichtlich fesselnd findet, ist e.e.cummings, und ihre Vertonung seines little tree aus 2003 passt perfekt zu den Worten. Das Stück für Chor und Marimba ist in drei kurze unabhängige Bilder gegossen. Es war ein Auftragswerk für den Young People’s Chorus von New York. Die Marimba agiert gegenüber den drei oberen Stimmen wie ein Continuo, die musikalische Textur erweiternd. Wie bei cummings: was Sie sehen ist nicht unbedingt, was Sie bekommen, oder im Fall von Weir, was Sie hören….

In einer zweiten Vertonung von cummings, 2003 abgeschlossen, a blue true dream of sky haben wir ein recht verzücktes Werk, das uns sofort an Weirs Beschäftigung mit der Mystikerin Hildegard von Bingen denken lässt. Das Stück wurde im Auftrag des Chorleiters und Organisten Philip Brunelle geschrieben, und die Uraufführung erfolgte durch seinen Plymouth Church Choir in Minneapolis. Die

herausgehobene Sopransolopartie wurde für Maria Jette geschrieben. Zwei Altsoli besetzen den musikalischen Hintergrund und erlauben es der Sololinie, dem Chor und ihrer eigenen Musik sich allmählich zusammen zu schließen

 

Judith Weir: ‘a blue true dream of sky’, Takte 9-11

(Click on the image to download the full score)

 

A Blue True Dream Of Sky Words by e.e. cummings — Music by Judith Weir © Copyright 2003 Chester Music Limited. All Rights Reserved. International Copyright Secured. Used by permission
A Blue True Dream Of Sky Words by e.e. cummings — Music by Judith Weir © Copyright 2003 Chester Music Limited. All Rights Reserved. International Copyright Secured. Used by permission

 

Judith Weirs Musik wird verlegt bei Chester-Novello, Teil der Music Sales Group, und wir hoffen, dass dieser kurze Überblick bei Chorleitern Interesse entzündet hat.

 

Judith Weirs Interesse für Erzählungen, Folklore und das Theater haben ihren Ausdruck in einem breiten Spektrum musikalischer Erfindung gefunden. Sie ist Komponistin und Librettistin mehrerer häufig gespielter Opern, deren Themen u.a. isländische Sagen, die chinesische Yuan Dynastie und die deutsche Romantik sind. Volksmusik der Britischen Inseln und darüber hinaus haben eine ausgedehnte Reihe von Streicher- und Klavierkompositionen beeinflusst. Viele Jahre lang hat sie in England und in Indien mit dem Geschichtenerzähler Vayu Naidu und Margaret Williams über Film und Musik zusammen gearbeitet. Sie war einige Zeit Composer-in-Residence beim City of Birmingham Symphony Orchestra und hat auch für die Boston Symphony, BBC Symphony und Minnesota Orchestra komponiert.

 

 

Graham LackGraham Lack studierte Komposition und Musikwissenschaft am Goldsmiths’ College und an King’s College, University of London (BMus Hons, MMus), Musikerziehung an der Universität Chichester (Staatsexamen), und zog 1982 nach Deutschland (Technische Universität Berlin, Dissertation). Dozent für Musik an der Universität Maryland bis 1992. Beiträge für Groves Dictionary und Tempo. Kompositionsaufträge: Sanctus (Queens’ College Cambridge), Two Madrigals for High Summer, Hermes of the Ways (Akademiska Damkören Lyran), Estraines, (The King’s Singers, eingespielt bei Signum), Four Lullabies (VOCES8, Signum), Petersiliensommer (Münchener Philharmonischer Chor). The Legend of Saint Wite war 2008 Gewinner eines BBC Wettbewerbs. REFUGIUM wurde vom Trinity Boys Choir London 2009 uraufgeführt und 2012 auf CD veröffentlicht. Zu den jüngsten Werken gehören Wondrous Machine für den Multipercussionisten Martin Grubinger, Nine Moons Dark für großes Orchester. Uraufführungen 2010/11: Streichtrio The Pencil of Nature (musica viva, München), A Sphere of Ether (Young Voices of Colorado), The Angel of the East. Uraufführungen 2011/12: The Windhover (Solovioline und Orchester) für Benjamin Schmid. Korrespondierendes Mitglied des Instituts für Advanced Musical Studies King’s College London, regelmäßiger Teilnehmer an ACDA-Konferenzen. Verlegt bei: Musikverlag Hayo, Cantus Quercus Press, Schott, Josef Preissler, Tomi Berg. Email: graham.lack@t-online.de

 

Übersetzt von Lore Auerbach, Deutschland

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