Seppo Murto, Organist, Chorleiter und Lehrer
Übersetzt aus dem Englischen von Christa Sondermann, Deutschland
Finnland hat eine alte Tradition der Ausbildung von Chorleitern. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ist ein Grundkurs Bestandteil der Programme von Lehrerseminaren und Kirchenmusikschulen. Deshalb war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein das Chorleben hauptsächlich Angelegenheit der Schullehrer und Kirchenmusiker. Um die Wende zum 20. Jahrhundert, einer Periode der nationalen Erweckung, die zur Unabhängigkeit Finnlands von Russland führte, entstanden viele Amateurchöre nicht nur in Städten, sondern auch in ländlichen Gebieten: Chormusik erwies sich als wirkungsvolles Medium zur Verbreitung nationalistischer Ideale, wobei die Zensur durch poetische Umschreibungen umgangen wurde.
Viele Chorleiterstudenten erwarben ihr Können nicht nur durch die formale Ausbildung, sondern auch durch die praxisnahe Arbeit mit Chorleitern der fortgeschrittenen Chöre in ihren Studienorten und durch die Bekanntschaft mit dem Repertoire dieser Chöre.
Ein wichtiger Impuls für die Chorleitung kam von der Musikerziehung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Erkki Pohjola den Tapiola Chor von einem Schulchor zu einem Instrument von internationalem Niveau formte. Inspiriert von seinem Vorbild entwickelten junge Musikerzieher plötzlich verstärktes Interesse an Chorleitung und suchten Fortbildung in Sommerkursen. Das Klemetti Institute, beheimatet in der kleinen Stadt Orvesti in Mittelfinnland, entwickelte sich zu einem bedeutenden Zentrum, dessen Wirkung nicht zu unterschätzen ist: Es hat 60 Jahre lang in Sommerkursen Schulungen für Dirigenten und fortgeschrittene Chorsänger angeboten und wird immer noch gut besucht. Erprobte Grundausbildung, Weiterbildung und vor allem ein breit gefächertes Angebot an praktischer Erfahrung bewirkte die Entwicklung einer Generation finnischer Chorleiter, deren Enthusiasmus und aktiver Einsatz das Chorsingen zu einer wirklich weit verbreiteten Freizeitbeschäftigung machte. Für diese Chorleiter war technisches Können eben nicht das Wichtigste: Sie sahen sich in erster Linie als Pädagogen und Chormusik als förderlichen Beitrag zum Wachstum der Kinder und Jugendlichen.
Offensichtlich haben Kirchenmusiker und Musiklehrer eine Schlüsselrolle in der Entwicklung der finnischen Chorleitung gespielt, denn in den Studiengängen an der Sibelius Academy, Finnlands einziger Musikhochschule, sind die Chorleiterklassen Pflichtveranstaltungen. Schul- und Kirchenmusikstudenten müssen einen ein-, bzw. zwei- jährigen Chorleitungskurs belegen. Eine bemerkenswert hohe Anzahl an Studenten nimmt auch an der Wahlveranstaltung für Fortgeschrittene teil. Diese Klassen richten sich vor allem nach den praktischen Bedürfnissen in Bezug auf Repertoire und technische Fertigkeiten.
Die Ausbildung zum professionellen Chorleiter entwickelte sich erst richtig in den 1970er Jahren, als die Sibelius Academy Chorleitung als Fach mit Diplomabschluss einführte, dem damals höchsten akademischen Titel im Fachbereich Musik. Dank der entschlossenen Bemühung um Weiterentwicklung hat sich Chorleitung als eigener Studiengang durchgesetzt; ein bis zwei Studenten machen jedes Jahr ihren Abschluss in diesem Fach.
Einen großen Fortschritt brachte die Gründung des Sibelius Academy Vokalensembles in der Mitte der 1990er Jahre. Eine Gruppe von 16 professionellen Sängern ist bereit, jede Woche vier Stunden lang mit den Chorleitungsstudenten zu arbeiten. Dieses Angebot ermöglicht es den Studenten, unterschiedliches, technisch anspruchsvolles Repertoire auszuprobieren. Obwohl dieses Ensemble selten außerhalb der Sibelius Academy auftritt, gilt es – seit der Auflösung des Finnischen Rundfunkkammerchores durch die Finnische Rundfunkanstalt 2005 – zu Recht als Finnlands einziger ständiger Berufschor neben dem Chor der Finnischen Staatsoper.
Das Chorleitungsstudium umfasst fünf Schwierigkeitsgrade: Die Grundausbildung kann an verschiedenen Musikschulen oder in Sommerkursen erfolgen. Sie vermittelt ausgezeichnete Kenntnisse für stellvertretende Dirigenten von Amateurchören und bildet die Grundlage für weitere Studien. Die Examen für die berufliche Qualifizierung werden in aufsteigender Ordnung als D-, C-, B- und A-Examen bezeichnet.
Schul- und Kirchenmusikstudenten müssen für ihr Diplom das Chorleiterexamen (Niveau D) abgelegt haben. Damit erlangen sie die Grundkenntnisse für die Arbeit mit verschiedenen Amateurchören. Der Examenskurs beinhaltet Probenarbeit und Leitung eines Chores, Stimmbildung, Standardrepertoire und Kenntnis der wichtigsten Stilrichtungen der Musikgeschichte. Die charakteristischen Merkmale der Kinder- und Jugendchöre werden in besonderen Modulen vermittelt.
Der C-Kurs beinhaltet einen tiefer gehenden künstlerischen Ansatz und eine größere Vielfalt des Repertoires. Gegenwärtig kann das C-Examen sowohl an der Sibelius Academy als auch an den Universitäten für Angewandte Naturwissenschaften in Tampere und Jyväskyla in Mittelfinnland und auch in einem Sommerkurs an dem Klemetti Institute abgelegt werden. Ein C-Examen ist für Schulmusiker ein Weg zur Umschulung zum Chorleiter.
Der Schwerpunkt der erwähnten Kurse liegt auf der Verbesserung der technischen und künstlerischen Fertigkeiten und der Vermittlung der charakteristischen Eigenheiten des Chores als Instrument. Stimmbildung und Chorklang spielen eine zunehmend wichtige Rolle im Curriculum, und in letzter Zeit wird der Kommunikationsfähigkeit des Chorleiters besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die Wechselwirkung zwischen Dirigent und Instrument ist von außerordentlicher Bedeutung für die Entwicklung des Chores im Streben nach Übereinstimmung von Klangvorstellungen und künstlerischem Ansatz. Ein guter Chorleiter muss ein begabter, solide ausgebildeter Musiker und zugleich ein Instrumentenbauer sein. In den C- und D-Examen werden sowohl das Dirigieren als auch die Probenarbeit bewertet.
Die nächste Stufe B zählt im Universitäts-Curriculum zu den „Fortgeschrittenen Studien“. Das Ausbildungsziel ist die Vorbereitung des Studierenden auf selbständige Planung des Repertoires, Probenarbeit und Durchführung eines Konzerts. Die Ausbildung auf diesem Niveau ist praktisch nur an der Sibelius Academy in Helsinki und an der Kuopio – Lehranstalt in Zentralfinnland möglich. Der B-Kurs umfasst ein weitgefächertes Pflicht-Chorrepertoire verschiedener Perioden und Stilrichtungen. Werke mit Orchesterbegleitung gehören auch dazu, obwohl der Schwerpunkt auf A Cappella –Repertoire liegt. Es gibt themenorientierte Module, z.B. die stilistischen Anforderungen der historischen Epochen, die persönliche Entwicklung des Chorleiters und der Unterricht in Chorleitung. Das Examen vollzieht sich als Konzert, dessen Programm Werke aus verschiedenen größeren Epochen und auch ein Chorwerk mit Instrumentalbegleitung umfasst. Wenn der Kandidat schon einen eigenen Chor dirigiert, kann er das Examen mit diesem Chor bestreiten. Dieser zweijährige B-Kurs wird jährlich von vier bis fünf Studenten absolviert.
Das A-Examen, mit dem man den Magister in Musik erwirbt, kann nur in der Chorleiter-Klasse der Sibelius Academy abgelegt werden. Verlangt werden in diesem Examen weitgefasste Kenntnisse des Repertoires mit besonderer Betonung auf zeitgenössischer Musik. In das Examenskonzert wird sowohl der eigene Chor des Kandidaten als auch das professionelle Vokalensemble der Sibelius Academy einbezogen. Die Studienvoraussetzungen für das A-Examen sind vorwiegend künstlerischer Natur, mit besonderem Schwerpunkt auf der inhaltlichen Analyse. Ein oder zwei A-Examen werden jedes Jahr abgelegt.
In Finnland kann man also verschiedene Wege und Schwierigkeitsgrade wählen, wenn man Chorleiter mit je unterschiedlichem Anforderungsprofil werden will. Und doch muss man feststellen, dass die finnischen Ausbildungsmöglichkeiten in diesem Fachbereich zunehmend begrenzt werden. Die Hochschulausbildung mit akademischem Abschluss (Magister/Master) oder beruflicher Qualifikation kann außer an der Sibelius Academy nur noch in Tampere oder Jyväskylä absolviert werden. Berufliche Chorleiter sind – vielleicht erstaunlicherweise- in Finnland selten: Es ist extrem schwierig, seinen Lebensunterhalt nur durch Chorleitung zu verdienen. Im ganzen Land gibt es nur eine Handvoll Vollzeitchorleiterstellen. Die meisten Chorleiter sind freiberuflich tätig und beziehen ihr Einkommen aus verschiedenen Quellen neben (oder an Stelle) der Chorleitung. Doch trotz der gegenwärtigen finanziellen Schwierigkeiten gehen die Bemühungen um die Entwicklung der Chormusik und Chorleitung weiter, um sich den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu stellen, in beständiger Beziehung auf das feste Fundament der Tradition.
Musikdirektor Seppo Murto (geb. 1955) ist einer der bedeutendsten finnischen Organisten und Chorleiter. 1980 erhielt er sein Diplom für die Orgel und 1983 für die Chorleitung. Seppo Murto begann 1981 als Künstlerischer Direktor von Dominante. Zusätzlich hat Seppo Murto als Künstlerischer Leiter verschiedener gemischter Chöre gearbeitet – so des Suomen Laulu (1984 – 1988), des Akateeminen Laulu (1994 –2000), des Viva Vox (1995 – ). Seppo Murto hat in aller Welt viele Seminare und Workshops für Chorleitung abgehalten, z.B. bei den Nordklang und Europa Cantat Festivals. Er hat mit seinen Chören verschiedene Platten aufgenommen, wovon zwei als „Schallplatte des Jahres für Chormusik“ nominiert wurden. Murto hat die größeren Werke von Bach, Haydn und Mozart mit den führenden finnischen Orchestern aufgeführt. Seppo Murto ist seit 1985 Organist der Kathedrale von Helsinki und unterrichtet Chorleitung an der Sibelius Academy, der führenden Hochschule für das Musikstudium in Finnland. Er hat Orgelkonzerte in Finnland und im Ausland gegeben; z.B. in den skandinavischen Ländern, in Russland, Estland und Deutschland. Mit seinen Chören hat er alle Kontinente außer der Antarktis besucht. Der Finnische Chorleiterverband hat Seppo Murto zum „Chorleiter des Jahres 2001“ ernannt, und der „Verband Finnischer Kirchenmusiker“ hat ihn zum „Kirchenmusiker des Jahres 2013“ gewählt. Er war der erste Präsident des Finnischen Chorleiterverbandes und der erste künstlerische Leiter des „ Choral Espoo“ Festivals. E-Mail: seppo.murto@uniarts.fi