Das Transkribieren alter mehrstimmiger Musik

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Von Luigi Lera, Lehrer und Dirigent

Wir fragen uns seit über zwanzig Jahren warum unsere Chorpraxis, die doch wirklich voller Leben und Begeisterung steckt, es nicht fertig gebracht hat, die alte Polyphonie zu neuem Leben zu erwecken. Dahinter stecken natürlich eine ganze Reihe Gründe. In diesem Artikel werden wir uns auf die Untersuchung von nur einem Aspekt beschränken: wie weit sind die Ausgaben, die wir tagaus tagein benutzen, daran schuld?

Warum transkribieren wir alte Musik überhaupt? Da hat eigentlich nur ein Grund Hand und Fuß: wir möchten die gesamte Komposition vor uns haben. Die Polyphonie der Renaissance wurde immer in Einzelstimmen geschrieben und aus Einzelstimmen aufgeführt, ganz gleich, ob es sich um gedruckte Quellen oder liturgische Manuskripte handelte. Dank Transkribierung kennen wir schon die Akkorde, die der Komponist benutzte, bevor wir die Arbeit an einem Stück überhaupt begonnen haben, wir wissen, wie die Stimmen angeordnet sind und wie die Imitations-Einsätze aufeinander folgen. Aber wir müssen bedenken: diese Notwendigkeiten betreffen das durchschnittliche Chormitglied nicht; sie sind nur für die Arbeit des Chorleiters von Bedeutung, oder vielleicht sogar nur für Musikwissenschaftler oder Kompositionsstudenten. All das, was wir einer Partitur entnehmen, mag von Interesse sein für die unter uns, die danach streben, die Schönheit dieser Musik aus einer weit entfernten Vergangenheit besser zu verstehen, aber für den einfachen Zweck, rhythmisch zusammen zu bleiben oder sogar gleichzeitig das Ende zu erreichen, ist es nicht ausschlaggebend.

Die Sänger brauchen die Partitur genau so wenig wie die Spieler in einem Instrumentalquartett, genau wie Orchestergeiger nicht die gesamte Sinfonie vor sich haben müssen. Mit ziemlicher Sicherheit haben viele von uns das Chorstück I Lombardi alla Prima Crociata oder La Traviata problemlos aus Einzelstimmen gesungen. Der einzige, der wirklich die Transkription haben muss, ist der Dirigent oder, um es wirklich genau auszudrücken, der Dirigent braucht sie, während er sich auf das Stück vorbereitet. Es gibt bekannter weise eine ganze Reihe moderner Interpretations-Unsitten, besonders in Bezug auf Dynamik und Tempowechsel, deren direkte Ursache darauf zurückzuführen ist, dass die Dirigenten alle Stimmen vor sich haben. Es ist gut möglich, dass die in weiten Kreisen ersehnte Wiederbelebung der authentischen Musizierpraxis der Renaissance in der Tat die mutigen Bemühungen braucht, die nötig sind, um ein Madrigal oder eine Motette ausschließlich mit Hilfe von Einzelstimmen auf die Beine zu stellen.

Vor diesem ersten Beweggrund verlieren alle etwaigen anderen Gründe, eine Komposition der Renaissance zu transkribieren, einfach ihre Existenzberechtigung.

Man mag denken, dass die Transkription dafür nötig ist, dass man eine klare und wohlgeordnete graphische Darstellung des Stückes erhält; in mancher Hinsicht gibt diese Rechtfertigung Sinn, obwohl die Notenschrift des sechzehnten Jahrhunderts zu den genauesten und leserlichsten der vergangenen Jahrhunderte zählt. Früher wurde die Transkription zur Transposition eingesetzt, d. h., um den Stimmumfang in den Bereich der Frauenstimmen zu verlegen. Darüber wollen wir hier nicht urteilen, denn in Anbetracht der Chorpraxis unserer Tage ist das durchaus sinnvoll. Ein gesundes Bedürfnis regt sich jedoch unter Musikern, dass sie die Stücke in den originalen Kirchentonarten vor sich haben möchten, so, wie sie von den Verfassern zusammengesetzt worden waren. Unser Wissen um die Kompositionstechniken und Akkordfortschreitung der Renaissance ist ohnehin schon jämmerlich genug, als dass wir es auch noch weiter durch anachronistische Transposition verwirren sollten. Moderne Musikherausgeber sehen keinen Grund mehr, eine Partitur nur zum Zweck der Verschiebung der Tonhöhen für eine Aufführung zu bearbeiten, genau wie es keinem Dirigenten einfallen würde, sie darum zu bitten.

Man sagt, dass die Transkription dem Zweck dient, das Problem der Notierung in alten Schlüsseln zu beseitigen, und das stimmt nur zu sehr. Auf der anderen Seite gibt es jedoch Verfechter der Ansicht, dass nur die Notierung in C-Schlüsseln es gestattet, die Polyphonie korrekt zu lesen. Beide Standpunkte haben etwas für sich, auch wenn es zur Zeit erscheint, als ob die Vertreter der kompromissloseren Richtung die größeren Konzessionen machen müssen. Was das Notenlesen angeht, so entsprechen die modernen G-Schlüssel und G nach unten oktaviert (für die Tenöre) den alten Schlüsseln für alle praktischen Bedürfnisse durchaus in angemessener Weise. Von diesem Gesichtspunkt aus war der C-Schlüssel selbst zu Palestrinas Zeiten nichts als eine unnötige Belastung. Es ist allerdings unbestreitbar, dass die alten Schlüssel unentbehrlich für andere Zwecke sind als das Verständnis eines Stückes: in erster und vordringlichster Linie für die Tonarten-Analyse nach der Methode von H. S. Powers, einer Technik, die Dirigenten und Musikwissenschaftler perfekt beherrschen sollten, und in zweiter Linie für alle, die die Noten nach den Regeln der mittelalterlichen Solmisation lesen möchten. Für den ersten dieser beiden Zwecke reicht der kurze Beispiel-Takt, der gewöhnlich dem Anfang einer Transkription vorangestellt wird, vollauf; für den anderen gibt es jedoch keine echten Alternativen. Aus einer ganzen Reihe Gründe lässt sich der komplizierte Mechanismus der mutatione der Renaissance nicht auf den modernen G-Schlüssel anwenden. Jeder, der das bestreitet, macht sich unnötig etwas vor: bestenfalls wird es ihm nicht einmal gelingen, die Vielschichtigkeit der Probleme zu erfassen, mit denen er konfrontiert wird. Meine persönliche Ansicht ist die, dass ich nicht glaube, dass das Lesen im Hexachord die wundersamen Eroberungen mit sich bringt, von denen man gelegentlich hört; aber ich bin davon überzeugt, dass es weitere, unter der Oberfläche verborgene Gründe gibt, die Ausübung dieser Praxis zu unterstützen. Spekulationen in Bezug auf die Zukunft sind immer riskant, aber es ist zu erhoffen, dass – wenn wir es auf anderen Wegen schaffen, die festen Kompositionsregeln der Renaissance zu ergründen – unsere Enkelkinder in der Lage sein werden, all die Vorteile wieder zu entdecken, die sich daraus ergeben, wenn wir die Zusammenhänge zwischen den Klängen in derselben Weise erleben, wie es die Komponisten der Polyphonie einst taten.

Wenn die Wahl der Schlüssel wirklich keinen Unterschied auf die Aufführung macht, so ist die Lage in Bezug auf viele andere graphischen Einzelheiten total und dramatisch anders. Über ein Jahrhundert, in dem die moderne Chorpraxis auf das polyphone Repertoire angewendet wurde, hat uns ohne Zweifel eine ganz wichtige Angelegenheit gelehrt: dass die zusätzlichen Zeichen, die von Herausgebern eingefügt worden sind – legato, staccato, Akzente, dynamische Anweisungen und Tempowechsel – ganz und gar nicht dazu beitragen, die Vorstellungen des Komponisten klarer zum Ausdruck zu bringen. Im Gegenteil: sie führen unweigerlich zur gegenteiligen Wirkung – denn sie zwingen der ursprünglichen Aufführungspraxis, wie eine Schicht durchsichtigen Lackes, eine ganze Galerie moderner Empfindungen auf, die in einen viel moderneren Zusammenhang gehören. Die Wirkung diese Zusätze besteht in einer ständig zunehmenden Entfernung der Aufführung des Stückes von der ursprünglichen Wirkung. Die Notation eines polyphonen Stückes darf nur enthalten, was vom ursprünglichen Verfasser geschrieben worden ist, oder hätte geschrieben werden können; die Tage der Schinelli-Ausgaben sind nun wirklich vorbei. Moderne Sänger sind berechtigt, vom Dirigenten oder sonstigen für die Aufführung Verantwortlichen zu verlangen, dass er sich die Mühe macht, das Stück direkt von den Quellen zu transkribieren, statt ihnen eine Partitur zuzumuten, die von Anfang an verdorben ist, beschädigt durch absichtliche, nicht ausradierbare pseudo-interpretierende Angaben.

Dennoch gehen die Vorbedingungen für eine gute Transkription weit hinaus über die schlicht Empfehlung, keine Zusätze zu machen. Was sollte also von denen erwartet werden, die polyphone Partituren herstellen? Vor allem, dass die Noten am richtigen Ort sind – aber die Erfüllung selbst dieser grundlegenden Vorbedingung ist nicht so einfach, wie es klingt. Die Schrift der Renaissance gewährt weite Ermessensentscheidungen, selbst wenn es nur um die Töne geht. Das fängt schon mit der Frage solcher Vorzeichen an, die zur Zeit der Komposition gar nicht ausgeschrieben werden mussten; in einer guten Neuausgabe sollten diese über die Note gesetzt werden; wir wissen, dass gewisse Situationen der polyphonen Technik, wenn der Tritonus mit ins Spiel kommt oder es um typische Kadenzen geht, bestimmte Vorzeichen für manche Töne verlangten, ohne dass es nötig gewesen wäre, sie ausdrücklich in den Stimmen einzuzeichnen. Dies ist der Punkt, an dem der Herausgeber seinen Sachverstand einsetzen muss – eine gründliche Kenntnis all der harmonischen Konventionen, die zur Zeit des Komponisten galten – ganz abgesehen von der Tatsache, dass sich die Quellen der Renaissance in dieser Hinsicht nicht vollkommen einig sind. Man kann sagen, dass es auf diesem Gebiet keine absoluten Gewissheiten gibt, besonders, wenn wir uns in Einzelheiten vertiefen; dennoch sollte die Glaubwürdigkeit der um 180 Grad entgegengesetzten Ansicht hervorgehoben werden: es gibt nicht nur allgemeine Richtlinien für den korrekten Ort für Vorzeichen, sondern sie gestatten erstaunlich wenig Spielraum für persönliche Auslegung. Die Zeiten, zu denen man dachte, dass man einem Stück den Charakter des Kirchentons verleihen kann, indem man schlicht den Leitton, der zum Vorhalt wurde, erniedrigt, sind ebenfalls vorbei. Die Regeln für den rechten Ort für im Original nicht vorhandene, aber notwendige Vorzeichen sind klar definiert und nicht einmal schwer verständlich – sie müssen nur korrekt gelehrt werden.

Ein weiterer Aspekt, mit dem der moderne Herausgeber sich befassen muss, wenn er Musik der Renaissance wirklich lesbar machen will, ist die Textunterlegung. Unsere heutigen Drucktechniken erlauben einen Grad der Präzision, der den Quellen aus dem sechzehnten Jahrhundert völlig abgeht, wo der Text einfach an den Anfang einer musikalischen Phrase gesetzt wurde, und ohne jede Trennung oder Verteilung; wir finden bei einem großen Teil der geistlichen Musik – sowohl in Handschriften als auch im Druck – sogar oft nur eine Überschrift, und gar nichts unter den Notensystemen. Chorsänger unserer Zeit möchten aber Silbe für Silbe durch die vertrackte Aufgabe geführt werden, die Noten mit dem Text zusammen zu bringen. Die Polyphonie des sechzehnten Jahrhunderts ist zu weit von unserer musikalischen Kultur entfernt, als dass wir uns – wie seinerzeit – auf eine Reihe unausgesprochener Konventionen, die unter Sängern als bekannt vorausgesetzt wurden, verlassen könnten. Wir sind noch sehr weit davon entfernt, einen ausgereiften Zugang zu diesem Problem zu haben; der Chorleiter hinterfragt sehr selten die Textunterlegung, wie sie in der Partitur vorgefunden wird, und es ist ebenso wahr, dass die Ausbildung für Chorleiter nur selten Zeit für spezifischen Unterricht in diesem Bereich findet.

Wenn wir ein bisschen in unserem Gedächtnis graben, erinnern wir uns alle an Stellen, die zeigen, welche ernsthaften Konsequenzen sich aus diesem Zustand ergeben. Wenn es beispielsweise wahr ist, dass Kyrie eleison von vier bis auf sieben Silben ausgedehnt werden kann, oder dass in gloria Dei Patris zwischen sechs und acht haben kann, dann lässt sich leicht vorstellen, wie oft das Melisma auf der vorletzten Silbe an der falschen Stelle gesungen worden ist, was unter Umständen die Klarheit und die Verständlichkeit eines ganzen Abschnitts verderben kann. Die Grundregel für die Textunterlegung in der Musik der Renaissance besteht darin, dass die Silbenaufteilung sich in natürlicher Weise der polyphonischen Phrasierung anpasst: lange Silben auf lange Noten, kurze Silben auf kurze Noten, Melismen auf betonte Silben, richtige Aussprache von Doppelvokalen, und so weiter. Leider besteht heutzutage die einzige Garantie, dass man eine gute Partitur hat, immer noch in den persönlichen, oder besser gesagt: professionellen, Fähigkeiten des Transkribenten.

Keiner dieser ersten Gesichtspunkte wiegt aber, für sich genommen, schwer genug, als dass man ihn beschuldigen könnte, ganz für sich alleine die Wiederbelebung der polyphonen Tradition der Renaissance schon bei der Geburt abgewürgt zu haben. Partituren, Tonarten, Vorzeichen und Textunterlegung sind alle wichtige Faktoren, aber sie bedeuten doch nicht mehr als eine etwas langatmige Einleitung zu diesem Artikel. Im nächsten Abschnitt wollen wir uns mit wichtigen Themen wie Tempo, Pulsschlag und Tonlängen befassen – ich kann gar nicht genug betonen, wie ausschlaggebend diese Punkte sind. Eine Silbe am falschen Platz oder ein Kreuz oder ein b ohne guten Grund – nun ja, aber es ist etwas ganz anderes, wenn das Tempo oder die Lautstärke eines ganzen Stückes total missverstanden werden. Man sagt, dass die Transkribierung der Polyphonie notwendig ist, damit “man dem modernen Leser die Aspekte der Notation der Vergangenheit verständlich machen kann, die sich heutzutage als zu undurchschaubar herausstellen würden für die, die keine Sonderausbildung in der Palaeographie haben”.

Wieviel Gewicht darf man dieser Denkweise zuordnen? Unsere Laienchorsänger trauen sich oft durchaus an Neumen aus St. Gallen oder an Gregorianik oder die Dickichte mancher Notation des zwanzigsten Jahrhunderts heran. Ist die Notation der Renaissance wirklich so verschieden von unserer, als dass die Transkribierung in ein anderes Schriftsystem gerechtfertigt wäre? Nein, oder zumindest nicht in Bezug auf die einfachsten Grundlagen; vermutlich sind mehr als neunzig Prozent der musikalischen Meisterwerke des sechzehnten Jahrhunderts voll zugänglich für die, die ein Stück in moderner Notation lesen können. Natürlich gibt es Unterschiede, aber die wichtigeren unter diesen sind keineswegs schwer verständlich, weil sie sich alle aus einer Hauptquelle ableiten. Betrachten wir uns also diese Quelle.

Die Geschichte der westlichen Musik gibt etwas zu den Akten, ohne Raum für Zweifel, das ausschließlich in der Notation stattfindet: ein nimmer-endendes Sich-Verschieben der Notenwerte. Man kann sagen, dass dies etwas ist, das eben passiert, und damit basta; dass es dafür keinen echten Grund gibt, obwohl es diverse verschiedene Argumente gibt, die versuchen, dies Sich-Verschieben in diversen historischen Zusammenhängen zu rechtfertigen. Dies ist eine grundlegende Frage, in solch einem Grade, dass eine jegliche Diskussion zum Thema Transkription von eben diesem Punkt ihren Anfang nehmen sollte.

Die Lage ist einfach diese: dass die Grundwerte, die in der Notation eingesetzt werde, sich allmählich verkleinern. Wenn das eine Jahrhundert in Longen und Breven denkt, so denkt das nächste in Breven und Ganzen; danach kommen Ganze und Halbe und noch später Halbe und Viertel. Aber aufpassen: alle diese Veränderungen beziehen sich nur darauf, wie die Musik niedergeschrieben wurde – auf das Tempo haben sie keinerlei Einfluss. Man könnte sagen, dass die jüngeren Musiker einer jeden Generation darauf erpicht sind, die Musik ihrer Vorfahren mit immer kleineren Werten vollzustopfen, indem sie wahre Notenkaskaden spielen; im Lauf der Jahrzehnte werden eben diese Komponisten aber auch älter, und ihre Denkweise wird abgeklärter, und sie selbst verwandeln sich in die Verteidiger des Systems gegen die Auswüchse ihrer Enkelkinder. Das Ergebnis dieser zwei sich feindlich gegenüberstehenden Tendenzen und des resultierenden Konflikts ist eben genau das: ein langsamer Übergang zu kleineren Notenwerten.

Wir können das Phänomen dieser sich ändernden Notenwerte mit der verhältnismäßig gleichmäßigen Zunahme der Inflation vergleichen, eine ähnliche Entwicklung, wenn auch anders herum, der sich regelmäßig im Bereich der Volkswirtschaft abspielt: für einen Volkswirtschaftler würde es keinen Sinn geben, zu sagen, dass ein Fiat 500 in Italien zwei Millionen Lire kostet, ohne festzulegen, auf welches Jahr sich das bezieht; es hat Zeiten gegeben, wo jemand, der tausend Lire besaß, als wohlhabend galt. Im Fall der Musik sind die Zahlen, um die es geht, außerordentlich klein, denn kaum ein Komponist wird normalerweise mehr als vier oder fünf Notenwerte im selben Stück benutzen: wenn sie wissen, dass Machaut Breve in derselben Weise einsetzte wie Palestrina Ganze benutzte, wie Cavalli die Halbe und Schumann das Viertel, sollten die jeweiligen Herausgeber eigentlich keine Schwierigkeiten beim Entziffern von deren Partituren haben.

Natürlich wusste das neunzehnte Jahrhundert nichts von diesem Phänomen: man kann den Lehrplänen nicht einmal einen Vorwurf machen, denn sie enthielten wenig mehr als eine Ahnung von jeglicher vorklassischen Musik. Das Schulsystem, das uns alle geprägt hat, beschränkt sich praktisch auf nur drei Notenwerte: Halbe, Viertel und Achtel. Das ist der Grund, dass unsere Gesangsübungen nichts als zwei Halbe, zwei Viertel und zwei Achtel enthalten, denn dies sind die einzigen durch zwei teilbaren Werte, denen ein Musiker des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts realistisch im klassischen und romantischen Repertoire zu begegnen erwarten konnte. Man würde denken, dass ein Musiker eigentlich nichts darüber hinaus brauchen würde und, wenn wirklich notwendig, könnte man es mühelos umschreiben. Diese naive und vereinfachende Lösung, die für mehr als ein Jahrhundert im Gebrauch war, hat unsere Generation dumm und faul gemacht, wenn der Einsatz eines Grundsystems, das von dem abwich, das sie in der Schule gelernt hatten, eigentlich keine Schwierigkeiten bieten sollte. Ob man drei Viertel oder drei Halbe oder drei Achtel in einem Takt vorfindet, sollte nicht anders sein als drei Longen, drei Breven oder drei Ganze. Ich kann diese These auf der Basis der Erfahrung von vielen Jahren aufstellen, aber jeder kann es nachvollziehen, wenn er eine jegliche Gesangsübung zurück transkribiert. Wenn ich Polyphonie in musikalische Partituren übertrage, ändere ich nie die Notenwerte, selbst wenn es sich um eine Motette des dreizehnten Jahrhunderts handelt. Ich bin der Ansicht, dass es keine wahre Wiedergeburt der Musik der Renaissance geben kann, wenn wir uns nicht eine Denkweise wie oben beschrieben aneignen. Wir müssen uns selbst davon überzeugen, dass die Veränderung der Notenwerte einer polyphonen Komposition uns die ursprüngliche Aufführung ferner rückt, in genau derselben Art und Weise wie das die zusätzlichen Anweisungen für Ausdruck, Dynamik und Agogik tun: es ist dies ein Vorgehen, das die Vorstellungen des Komponisten wie mit einer durchsichtige Lackschicht bedeckt, eine unausweichlich andere rhythmische Konzeption.

Wenn das Tempo eines Stückes nun wirklich von den Notenwerten abhängt, die es benutzt, wie wir jetzt behaupten, dann ist es offensichtlicher denn je, dass die Veränderung der Notenwerte so wenig ausmacht wie die der Tonart.

Dieser Einwand besitzt einen Anschein von Sicherheit, aber eben doch nur einen Anschein: denn wer die musikalischen Figuren wirklich liest, und wir alle haben eine Stilperiode oder eine Musikart, in der wir uns besonders zu Hause fühlen, der sieht, dass jedes System ein sehr genaues Bezugssystem hat und ganz und die jeweilige Musik ganz und gar nicht wie vorher klingt, wenn sie in andere Notenwerte übertragen wird. Wir müssen die Tatsache anerkennen, dass die Verkleinerung der Werte nicht nur keine Lösung darstellt, sondern dass sie vor allem eine in ihren Grundlagen falsche Lösung ist. Wir verkleinern die Notenwerte, um die Musiker dazu zu veranlassen, schneller zu spielen: die Wahrheit ist, dass das Halbieren der Noten eine Lösung ist, deren Wirkung der Logik der Mensural-Notation um 180 Grad entgegengesetzt ist. Komponisten haben gewöhnlich die Wahl innerhalb dessen, das ihnen rhythmisch und ausdrucksmäßig möglich ist, unter verschiedenen Tempi, weil die Notenwerte sich eben nur langsam verändern. Für alle Musiker gibt es Tempi, die zum klassischen und traditionellen Bereich gehören, verbreitetere Tempi und Darstellungsmöglichkeiten, die der Fantasie freien Lauf gestatten. Die Geschichte lehrt uns, dass Komponisten, für eben und denselben Rhythmus, größere Notenwerte wählten, wenn sie die Spieler zum Schnellerspielen veranlassen wollten, und kleinere, wenn sie ein langsameres Tempo wollten. In anderen Worten: sie verhielten sich in Eintracht mit einer Logik, die genau das Gegenteil von der ist, die zum Halbieren führt.

Die Lehrmethoden des neunzehnten Jahrhunderts verschlossen unsere Augen vor dieser grundlegenden Erkenntnis: verringerte Werte führen unausweichlich zur Todsünde: es wird ein Tempo gewählt, das weniger glatt läuft. Was würden Autofahrer sagen, wenn jemand ihnen riete, auf der Autobahn in einem niedrigeren Gang zu fahren, damit es schneller geht? Diese Denkweise läuft im Grunde darauf hinaus, dass der Motor im zweiten Gang dermaßen angestrengt ist, dass er sich wie ein Ferrari benimmt!

Warum sollte Beethoven das Scherzo der neunten Sinfonie im Dreivierteltakt schreiben, wenn es eigentlich 12/8 ist? Warum sollte Schumann im Finale seines Klavierkonzerts dieselbe Lösung benutzt haben – ein Stück, mit dem Dirigenten sich bis auf den heutigen Tag blamieren?

Warum besteht der Wiener Walzer darauf, im Dreivierteltakt, aber als ganze Takte geschlagen, zu stehen, statt im bequemeren 6/8? Schlicht deshalb, weil kleinere Werte, selbst wenn die Zahl der Taktstriche dadurch bedeutend reduziert worden wäre, die Spieler unweigerlich dazu verführten, zu langsam zu spielen. Die einzige Methode, sie dazu zu ermutigen, schneller zu spielen, war der Einsatz von größeren Notenwerten (siehe Beispiel 1).

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Beispiel 1 – Beethoven in Schwierigkeiten, wenig orthodox, aber man versteht die Botschaft

Als ob die Praxis der verkleinerten Notenwerte noch nicht genug wäre, ist die Definition des Rhythmus eine zweite heikle Frage, was die Takteinteilung betrifft. Wir wiederholen noch einmal, dass jedes hinzugefügte Zeichen ein Musikstück von seiner ursprünglichen Ausführung entfernt: wie können wir es dann normal finden, die Beweglichkeit mehrstimmigen Phrasierens der Renaissance in einen wahren Käfig von Taktstrichen einzusperren? Der Taktstrich ist eine Erfindung, die in das 17. Jahrhundert zurückreicht. Er wurde während der Barockperiode notwendig und übermittelt Bedeutungen, die nur durch diesen Stil gerechtfertigt sind. Er ist nötig, um die Akzente zu differenzieren, die das Tempo artikulieren, sie in starke und schwache zu unterteilen und in Konsequenz die verschiedenen harmonischen Funktionen innerhalb der musikalischen Periode zu verteilen: nichts davon ist in Renaissancemusik praktikabel, in der der Grundschlag in vollständig undifferenziertem Metrum voranschreitet. In dieser Beziehung würden wir gern sagen können, dass diejenigen, die sich mit alter Musik beschäftigen, ein gewisses Bewusstsein dieses Sachverhalts haben. Dennoch ist der Weg, mit dem man beim Übertragen der Noten versucht, diesen Erfordernissen nachzukommen, noch immer vollständig unbefriedigend. In Partituren alter Mehrstimmigkeit findet man oft eine verborgene Prämisse, wo der Herausgeber sich von dem selbst verwendeten Metrum distanziert und versucht, die Verantwortung für jede ungenügende Ausführung den Sängern zu überlassen; das beweist, dass die Taktstriche nur hinzugefügt worden waren, um die Sänger zu unterstützen und dass sie den Rhythmus des Stücks nicht beeinflussen dürfen. Die Sänger zu unterstützen: könnte das eine gute Rechtfertigung zugunsten all dieser Übertragungen in Taktstriche sein? Ebenso wahr ist es, wenn wir zwischen den Zeilen lesen, dass wir zu vielen anderen Kompromissen gezwungen wurden. Es lohnt sich deshalb, den Sachverhalt näher anzuschauen. Vielleicht hilft das Hinzufügen von Taktstrichen den Sängern zu sehr: normale Partituren mehrstimmiger Musik enthalten nie mehr als vier Notenwerte zwischen zwei Taktstrichen. Das ist ein sehr niedriger Mittelwert, verglichen mit jedem lebenden Musikrepertoire aus dem Barock, der Klassik oder der Romantik. Man hat gesagt, dass dies unausweichlich ist, weil, während ein Professioneller – jeder Student im dritten Jahr – die Inventionen von Bach mit zwölf Noten pro Takt lesen kann, ein Amateur-Chorsänger einige Schwierigkeiten mit so langen Takten haben würde. Aber ist es denn wirklich wahr, dass die Sänger unserer Amateurchöre ein so geringes Leistungsniveau haben? Ihr Repertoire kann leicht die Bachschen Messen, Vivaldis Gloria, Mozarts Vesperae solennes und eine Menge anderer Musik mit sehr komplexen Taktunterteilungen enthalten. Also: natürlich nicht. Nur bei alter Polyphonie – wie man meint toter Musik – werden Amateurchöre und ihre Dirigenten wortwörtlich beleidigt, indem nur vier Noten pro Takt vorkommen.

Die Wahl, einen Käfig um das mehrstimmige Repertoire mit zwei Einzelschlägen pro Takt zu errichten, ist eigentlich das Resultat eines viel tieferen Beweggrunds. So tief, dass der Philologe, wenn er sich dessen tatsächlich bewusst ist, ihn nicht wahrhaben will. Und es ist ein Grund, der niemals den Ausführenden angelastet werden kann, weil er per definitionem mit der Musik zu tun hat. Es ist so, dass der moderne Wissenschaftler beim Vorhandensein von zweischlägigen Takten glaubt, oder besser: sich der Illusion hingibt, dass er seine Übertragung in Übereinstimmung mit den Aussagen der Musik-Theoretiker des 16. Jahrhunderts vornimmt.

Die Frage ist nun sehr präzise, aber noch nicht genau genug, um die Tür vor den Augen derjenigen zu schließen, die nur ein Halbwissen über Musiktheorie besitzen. Noch einmal: alles muss von der üblichen Vorstellung ausgehen, dem Phänomen wechselnder Notenwerte. Den Theoretikern des 16. Jahrhunderts war das Vorhandensein dieses stetigen Wechsels niemals wirklich bewusst, am allerwenigsten dessen Bedeutung. Wie es oft denen geschieht, die sich zu sehr auf ausbildungswichtige Fragen konzentrieren, waren sie einfach ein paar Jahrzehnte zurück.

Das heißt, dass in der Zeit, in der Verdelot und Janequin ihre Musik in Semibreven (Ganzen Noten) schrieben, die Theoretiker noch von Breven redeten, und selbst zur Zeit, als Marenzio und de Wert Minimen (Halbe) benutzten, die Theoretiker noch über Semibreven handelten. Die Musiktheorie der Renaissance war, mit anderen Worten, niemals zeitgleich mit den Kompositionen, von denen sie handelte. An diesem entscheidenden Punkt muss der moderne Wissenschaftler unbedingt erfahren sein, um zu wissen, was er tut: nur seine Fähigkeit, das harmonische und kontrapunktische Gewebe zu entschlüsseln, kann ihm helfen, sich von den theoretischen Meinungen zu distanzieren. Wenn er dazu keinen Mut hat, wird er damit enden, der gesamten Übertragung die doppelten Werte der vom Komponisten verwendeten zu geben: wenn das Stück in Semibreven (Ganzen Noten) geschrieben ist, wird er nach jeder Brevis einen Taktstrich setzen. Steht das Stück in Minimen (Halben Noten), wird er nach jeder Semibrevis einen Taktstrich setzen. Im besten Fall wird das Layout den Ausführenden unweigerlich glauben lassen, dass es sich um eine Art von Zweierbewegung handelt, was keineswegs dem Stil der Epoche entspricht. Die Musik der Renaissance schreitet Note für Note voran, allenfalls hinnehmbar als eine Zweier-Unterteilung. Die fälschlich hinzugefügte Zweier-Teilung des oberen Werts kann die veränderliche Vitalität der Phrasierung nur grässlich einsperren bis dahin, dass sie gänzlich unkenntlich gemacht wird.

Unsere Diskussion landet nun bei der ganzen Menge geläufiger moderner Symbole, die sich als zutreffende und passende Rhythmus-Zeichen für polyphone Kompositionen ausgeben: punktierte Noten, Ritardandi, Kadenzbezeichnungen und so weiter. Wer denkt, dass dies noch kein schlagender Beweis ist, braucht nur die ebenso zahlreichen Fälle in den Werken der ersten dreißig Jahre des 16. Jahrhunderts aufzudecken, der Periode, in der die Theoretiker sich allgemein auf den durchstrichenen Halbkreis alla breve beziehen: innerhalb der chanson und der frottole, die dieses Alla-breve-Taktzeichen verwenden, ist es nicht selten, dass Abschnitte vorkommen mit einer unregelmäßigen Anzahl von Breven.

Man kann dies bestätigt finden, wenn man den letzten Takt der Transkriptionen anschaut, in denen die letzte Note gelegentlich auf den Schlag und ein andermal auf den schwachen Taktteil fällt. In dieser Musik, die moderne Herausgeber ständig in die alla-breve-Schublade stecken, kann jedoch nur die Semibrevis (Ganze Note) der einzige legitime Bezugspunkt sein. Und man beachte, dass der Herausgeber in vielen dieser Fälle die Wirklichkeit zu verschleiern sucht, indem er an einer gut versteckten Stelle einen Takt mit drei Semibreven unterbringt, damit am Kadenz-Ende alles im richtigen Takt ankommt.

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Beispiel 2 – Mehrdeutigkeit bei Arcadelt: was ist richtig?

Andere wichtige Belege stammen aus dem folgenden Jahrzehnt und sind in Madrigalen von Verdelot und Arcadelt zu finden. Es ist wohlbekannt, dass die ästhetischen Konventionen des Madrigals die Bedingung übernahmen, dass Wiederholungen jedes Mal verschieden zu sein hatten, d.i. in jeder Phrase des Textes. Im frühen Madrigal war das aber anders, in ihm konnten ganze Satzteile leicht für einen verschiedenen Text wiederholt werden. In den Werken dieser beiden Komponisten ist es nicht unüblich, an Abschnitte zu kommen, die Note für Note wiederholt werden, also vom musikalischen Inhalt her ganz klar identisch sind, die Taktstriche aber auf unterschiedliche Stellen fallen: wenn sie beim ersten Mal auf dem ersten Schlag stehen, sind sie bei der Wiederholung auf dem zweiten, und diejenigen, die beim ersten Mal auf dem zweiten Schlag stehen, landen bei der Wiederholung auf dem ersten.

Die Quintessenz dieser Beobachtungen müsste also klar sein: selbst in diesen Fällen gruppieren alla-breve-Taktstriche zwei Semibreven unzulässig zusammen, die eigentlich beim Rhythmus das gleiche Gewicht haben. Das führt zu einer absurden Transkription, die sich notwendigerweise widerspricht, wenn man aus dem kontrapunktischen Bogen einen Sinn herauszulesen versucht; es ist ein Abschnitt, der noch unlogischer klingt, je genauer der Dirigent einem Dirigiermuster auf den Schlag genau zu folgen versucht (siehe Beispiel 2). Das Bild wäre unvollkommen, wenn wir nicht auch die letzte Unsitte der Herausgeber erwähnten, nämlich Taktvorzeichen zu verändern, um die Taktlängen an die von ihnen selbst vorgegebenen Längen und die Taktstriche an die von ihnen gewünschten Stellen anzupassen. Wenn man diesem Gedanken folgt, ist es tatsächlich unmöglich, sich eine authentische Wiederauferstehung der Musiktradition eines ganzen Jahrhunderts vorzustellen. Ein großer Teil der Mängel, die sich in modernen Transkriptionen finden, beruht auf der Tatsache, dass der Herausgeber sich eigenmächtig die Freiheit vorbehält, Taktvorzeichen, Notenwerte und die Zählzeit zu bestimmen: indem man jeden Schritt des Verhältnisses dieser drei Variablen modifiziert, heißt das letztendlich, dass man bei einer nicht gelingenden Interpretation nicht weiß, welchem dieser drei Parameter man die Schuld geben soll. Als der Musikwissenschaftler Albert Smijers nach 1921 die Déploration sur la mort de Ockeghem herausgab (die berühmte Motette von Josquin, geschrieben in den letzten Jahren des 15. Jahrhunderts), behielt er die originale Taktvorzeichnung (alla breve) und die Notenwerte bei, fügte aber eine Serie von Notenstrichen so eng aneinander hinzu, dass man eigentlich von einer Ausführung alla minima (in halben Noten) ausgehen müsste. Bei einem berühmten Schlusskonzert des internationalen Chorwettbewerbs Polifonico di Arezzo in den frühen 1980er Jahren erstreckte sich dieses kaum zweiminütige Stück auf eine kaum fassbare Länge von fast 20 Minuten. Nicht dass man heute, drei Jahrzehnte später, auf Schallplatten Besseres hört: keine von den Aufführungen bleibt unter sechs Minuten. In diesem Fall, sagt man, liegt der Fehler bei den Notenwerten, die nicht angemessen verkleinert wurden. Es ist aber wohl eher die lückenhafte Ausbildung einer ganzen Generation, die nicht einmal die grundlegende Fähigkeit besitzt, alla breve zu zählen.

Und die Madrigale von Luca Marenzio? Sie entstanden viel später, in den 1680er Jahren, mit der Taktvorzeichnung eines Halbkreises, woraus folgt, dass sie in Halben ausgeführt werden müssen; in modernen Ausgaben erscheinen sie aber in Halbe-Takten, während die Taktvorzeichnung und das Tempo unverändert sind, so dass ihr Tempo sich tragischerweise in einen modernen Viervierteltakt verändert. Dabei müsste es sich um den Anschein eines Zweierrhythmus handeln! In diesem Fall riskiert der unvorbereitete Dirigent, in die Falle eines fiktiven Viervierteltakts zu tappen. Jeder von uns kann sicher in seinem Museum diskographischer Irrtümer viele Beispiele finden, die solche elenden Konsequenzen illustrieren. (siehe Beispiele 3 und 4)

 Es 3

Beispiel 3 Die Falle von Marenzio

Es gibt eine letzte Überlegung, die man meist übergeht, die ich aber für die Entstehung einer guten Transkription entscheidend finde, nämlich die grundsätzliche graphische und inhaltliche Anordnung der Ausgabe: wie viele Noten gehen in eine einzelne Notenzeile, wo platziert man das Da capo, wie organisiert man die Verteilung der Seiten. Ich habe zu viele Editionen gesehen, die interessante Lösungen erwarten ließen, aber nicht verwendet werden konnten wegen ihres unhandlichen Formats, der kilometerweiten Entfernung der Noten voneinander, oder wegen des unsymmetrischen Layouts bei parallelen Phrasen. Auch hier gibt es keine Garantien, und die Qualität einer Transkription hängt vollständig von der Intelligenz des Herausgebers ab; derjenige, der sich vornimmt, für die Ausbildung eines Dirigenten Sorge zu tragen, muss auch ein Minimum an Aufmerksamkeit für diese sensiblen Probleme vermitteln.

Oft hängt es an falschen Details wie diesen, ob eine Transkription Erfolg hat oder scheitert.

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Beispiel 4 Josquin mit einem Rekord: eine Note per Takt (transkr. Smijers)

Jetzt wäre es endlich an der Zeit, Schlüsse zu ziehen, und doch haben wir noch nicht über positive Aspekte gesprochen. Bis hierher haben wir uns in unserem Beitrag sozusagen auf den pars destruens beschränkt, also auf die schlechten Beispiele der Vergangenheit. Unseren ganzen Platz haben wir verbraucht, um uns von fast allen vorgeschlagenen Lösungen der beiden Jahrhunderte zu distanzieren, in denen man – ohne jeden Erfolg – versucht hat, die Praxis der alten Mehrstimmigkeit wiederzubeleben. Wir haben noch nicht viel Zeit gehabt, darzustellen, dass in Wahrheit Transkribieren schön ist, vielleicht weil sogar heutzutage die Kunst der Transkription noch nicht begonnen hat, ihr erstaunliches Potenzial zu zeigen. Wir sollten uns daran gewöhnen, Spartieren als eine wunderbare Gelegenheit zu einer Schatzsuche zu betrachten: eine intelligent vorbereitete Ausgabe kann die formale Struktur eines ganzes Stückes beleuchten, kann neues Leben in die Phrasierung bringen oder ein besseres Verständnis für die verschiedenen kompositorischen Facetten erzeugen. Schließlich kann sie dem Ausführenden originelle und aufregende aufführungspraktische Hinweise vermitteln.

Die kommenden Jahrzehnte werden uns zweifellos die Gelegenheit bieten, sowohl Zeit für die Rückkehr zu diesen Diskussionen wie Material zur Diskussion zu finden. Für den Moment müssen wir unseren Teil tun, und der ist, dieses fundamentale Konzept zu verstehen: es ist sinnlos, nach einer Abkürzung zu suchen, wenn diese sich als viel schwieriger und unpassierbarer als die Hauptstrecke erweist. Sängern und Dirigenten die Bedeutung von Zeichen der Mensuralnotation in ihrem eigenen Kontext zu erklären ist ein auf die Dauer so viel einfacherer und einleuchtenderer Weg, als zu versuchen, eine Aufführungstheorie anhand unbrauchbarer graphischer Zeichen zu entwickeln. Und darüber hinaus ist das die einzige zulässige Vorgehensweise, mit der wir wertvolle und bleibende künstlerische Resultate erwarten können. Der gegenwärtige Zustand unserer Transkriptionen gebiert viel zu häufig Aufführungen mehrstimmiger Sätze, die düster und erstickt wirken; kein Wunder also, dass für die Sänger – und ihr Publikum – eine Villanelle von Banchieri oder ein Ballett von Gastoldi auch heute noch viel erfreulicher ist im Vergleich zu einem absoluten Meisterwerk wie einer Motette von Palestrina oder einem Madrigal von Cipriano de Rore. Wir müssen anfangen, von unseren Lehrern zu erwarten, dass sie uns beibringen, die Schriften vergangener Jahrhunderte zu lesen, und zwar nicht nur auf der Schulbank, sondern auch im Augenblick der konkreten Aufführung.

Man beachte, dass diese erweiterte Fragestellung nicht allein die alte Mehrstimmigkeit betrifft: die Notwendigkeit, den im Inneren der Notation verborgenen Sinn sehen zu können, gilt gleichermaßen für alle Perioden der Musikgeschichte.

Wenn Händel oder Corelli Largo oder Grave schreiben und dann die Notenwerte vergrößern, ist das nicht dasselbe, als wenn sie sie beibehalten oder verkleinern. Ja, indem wir dieses Problem so bezeichnet haben, weisen unsere Gedanken schon in die falsche Richtung: seit Musik zum ersten Mal aufgeschrieben wurde, sind die Noten das, was als erstes sprechen sollte. Die Tempoangaben können im besten Fall das präzisieren, was die Noten schon gesagt haben. Meine persönliche Galerie der diskographischen Irrtümer bezieht sich sicherlich nicht allein auf die Renaissance und enthält auch hochgelobte Aufnahmen von Namen der internationalen Szene: sogar in den besten Familien mag man ein Leben lang Bogentechnik oder Fingersätze studieren, sie mit liebender Sorgfalt aus den alten Quellen herausklauben, und dann doch übel in dem Moment straucheln, wo es darum geht, ein Andante zu entziffern. Die Wiederauferstehung aller Musik aus der Vergangenheit wird ein für immer unerfüllbarer Traum sein, bis die hier besprochenen Fragen mit weit höherer Dringlichkeit als bis heute in die Studien künftiger Generationen von Ausführenden Eingang finden.

 

Luigi Lera hat einen akademischen Grad in Geisteswissenschaften sowie ein Diplom in Klavier und Chormusik. Er betreut den Lehrstuhl für Musikgeschichte am Musikkonservatorium in Udine. Luigi Lera publizierte Arbeiten über mittelalterliche Lehrmethoden, über Mehrstimmigkeit seit ihrem Anfang und über Kontrapunkttechnik. Er gab Musik von Jacques Arcadelt, Giovanni Maria Asola und Andrea Gabrieli heraus und ist der Autor eines Handbuchs zum Gregorianischen Gesang, eines Bandes über musikalische Akustik (in Zusammenarbeit mit dem Physiker Vicenzo Schettini) und eines Lehrbuchs über Harmonie und Kontrapunkt. Er nahm mittelalterliche liturgische Musik auf, italienische Mehrstimmigkeit des 14. Jahrhunderts sowie Madrigale der Renaissance. Seit 2012 diskutiert er auf der Website www.tmpol.it über das mehrstimmige Repertoire; hier kann man auch die Transkriptionen und Audioübertragungen von über zweihundert Kompositionen verschiedener Perioden und verschiedener Stile finden, die unter Verwendung spezifischer Kriterien gemäß den wechselnden Charakteristika der verschiedenen Musikperioden aufgenommen wurden. E-Mail: luigilera@libero.it

 

Übersetzt aus dem Englischen von Irene Auerbach, UK und Klaus L Neumann, Deutschland

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