Über das Einsingen bei der Chorprobe

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Carmen Moreno, Gesangslehrerin und Chorleiterin
Übersetzt aus dem Spanischen von Reinhard Kißler, Deutschland

 

Das Einsingen ist nichts anderes als eine Reihe von Übungen zu bestimmten Intervallen, die wir durchführen, um eine Vorstellung von den wichtigsten Bewegungen zu bekommen: von der Haltung des Kiefers, der Lippen, der Mundwinkel, dem Sitz der Stimme und der Atmung, also dem, was man Gesangstechnik nennt, die wir dann auf die Intervalle anwenden, die im einzuübenden Stück vorkommen. Wichtig ist die Stellung des Mundes unmittelbar vor Beginn der Übung:

mouth

Warum müssen wir uns einsingen?

Damit die Muskeln Energie frei setzen und den idealen Tonus zum Singen erreichen.

Biochemisch gesehen wird diese Energie durch die Spaltung des Moleküls ATP (Adenosintriphosphat) bereitgestellt, das kleine, gut verwertbare Portionen von Energie, die beim Abbau von Kohlehydraten und Fetten vielfach abgespalten werden, selber aufnimmt und auf andere energiebenötigende Reaktionen überträgt. Bei den Muskelkontraktionen müssen z. B. aneinander vorbei gleitende Proteinmoleküle (Myosin- und Actinfäden) vorübergehend zusammengeheftet werden, wofür die Spaltung von ATP jeweils den richtigen Energiebetrag liefert.

Durch das Einsingen wird nun ein Großteil der Muskulatur von Hals, Gesicht, Kehlkopf und Rachen bewegt, einschließlich der Stimmbänder. Die dabei benötigte chemische Energie wird aber nur zu einem geringeren Teil (etwa 45 Prozent) in Bewegungsarbeit umgesetzt, denn der größere Teil geht in Wärme über, wodurch sich wiederum die für das Singen notwendige Beweglichkeit bzw. Geschmeidigkeit der Muskulatur erhöht. Liebhaber des Gesangs sprechen, wenn sie über das Einsingen reden, daher auch gern von einem „Aufwärmen“, denn die Muskulatur erreicht damit schnell den erforderlichen Tonus, um beim Singen jedwedes Intervall zu bewältigen.1

Der Chorleiter sollte eine Anzahl vorher ausgesuchter Übungen bereithalten, das Einsingen dann mit einer Übung kleiner Intervalle (zum Beispiel Sekunden) beginnen und in Halbtonschritten nach oben gehen, bis zu einer Tonhöhe, die für die verschiedenen Stimmen (Sopran, Alt etc.) noch gut erreichbar ist, wonach es wieder abwärts geht bis zum Ausgangsakkord der jeweiligen Stimmen. Der Chorleiter sollte auch das Ziel der Übungen erläutern, zeigen, wie man es erreicht, und die Fehler korrigieren, die er im Einzelnen oder Allgemeinen während der Übung beobachtet.

Bild 2 Einsingen: Sekundenintervalle

interval

Der Chorleiter bestimmt die Höhe des Ausgangsakkords für das Einüben der jeweiligen Stimmen.

Das Einsingen sollte mit einer Übung zu Terzen fortgesetzt werden. Auf diese Weise wird die beteiligte Muskulatur zunehmend geschmeidiger. Es ist nicht ratsam, das Einsingen mit Übungen großer Intervalle zu beginnen. Die Anstrengung, die eine erhöhte Klangintensität verlangt, kann ohne entsprechende Vorbereitung der Rachen- und Kehlkopfmuskulatur zu kleinen Rissen im Muskelgewebe führen, und wenn sich dies mehrmals wiederholt, können ernstere Verletzungen die Folge sein. Nach den Terzen folgen Übungen zu Quarten, Quinten etc., bis man zu Oktavsprüngen und Arpeggien gelangt.

Das Einsingen sollte wenigstens eine halbe Stunde dauern, wobei der Chorleiter bei Bedarf eine Übung auch wiederholen kann, um das Verständnis eines bestimmten, im Stück vorkommenden Intervalls zu verbessern.

Danach sollten Stimmübungen gemacht werden, um eventuelle Artikulationsschwierigkeiten bei bestimmten Intervallen des einzuübenden Stücks aus dem Weg zu räumen. Dazu hat der Chorleiter vorher die Partitur des Stückes studiert und die für den Chor möglicherweise schwierigen Intervalle analysiert. Er kann zum Einüben eines Stücks nach eigenem Gusto einen Takt herausgreifen, muss aber eine Stimmübung vorbereiten für den Fall, dass diese Phrase schwierige Intervalle enthält.

Ein einfaches Beispiel: Wenn der Chorleiter eine Schwierigkeit beim 7. Takt des Stücks beobachtet oder vorhersieht: Non Nobis

non nobis

In dem Falle muss er eine Übung mit Oktavsprüngen einschieben:

octave

Die Stimmübung sollte möglichst über die Höhe des an dieser Stelle zu singenden Intervalls hinausgehen.

Während des Einsingens synchronisieren die Muskeln von Gesicht, Hals und Kehlkopf ihre Bewegungen und memorieren die Art, wie ein Intervall zu singen ist, ganz ähnlich wie die Hände eines Pianisten. Insofern bedeutet Singen das Anwenden der beim Einsingen erlangten Fähigkeiten. Die Interpretation ist natürlich etwas anderes, sie bedeutet, dem Stück eine eigene Färbung zu geben, usw, usf., aber die technische Grundlage ist immer dieselbe. Es ist ähnlich wie bei einem Architekten, der ein Gebäude nach eigenem Geschmack entwerfen kann, aber das Fundament und die Säulen müssen wie bei jeder Konstruktion in Relation zur Schwerkraft stehen, da das Gebäude sonst zusammenbricht.

Zwei wichtige Ratschläge:

  1. Wenn die melodische Phrase mit einem Vokal oder einem Konsonanten wie K und einer hohen Note einsetzt, muss die Mundstellung wie folgt sein:

KC

 

Der erste Ton der Phrase ist korrekt platziert, und die korrekte Stimmung und Stellung wird während der ganzen Phrase beibehalten.

 

 

 

  1. Wenn die melodische Phrase mit Konsonanten wie n, m, p, g und auf einer hohen Note einsetzt, muss die Mundstellung folgendermaßen sein:

NM

Nachdem der Konsonant in dieser Stellung artikuliert worden ist, sofort das Kinn fallen lassen, wie in der vorigen Abbildung zur Artikulation des Vokals. Wenn der Konsonant gut platziert war, wird die Phrase nicht absinken, und die Stimmung bleibt korrekt.

 

 

In beiden Fällen steht das Kinn hervor.

Der Chorleiter sollte dem Einsingen große Bedeutung beimessen. Ein gut gestaltetes Einsingen spart Probenzeit, ermöglicht effizientes Erlernen, gibt dem Chor Sicherheit und führt zu besten Ergebnissen bei den Konzerten. Darüber hinaus ergeben sich dadurch neue Arbeitsperspektiven, die die musikalische Reifung der Gruppe und die eigene berufliche Kompetenz fördern.

1 Der Absatz Warum müssen wir uns einsingen? ist eine freie Übertragung der von Carmen Morena gelieferten Information. Sie war nicht exakt genug, weshalb ich einen befreundeten Biologen um Rat gefragt habe. Anm.d.Ü.

 

Carmen Morena, lyrisch-leichte Sopranistin, ist in Cumaná, Venezuela, geboren und lebt in Barcelona. Sie studierte Musik in ihrer Heimatstadt Cumaná, an der Escuela de Música Gómez Cardiel, am Conservatorio Juan José Landaeta von Caracas, am Conservatorio Superior Profesional de Música von Badalona (Spanien) und am Conservatorio del Liceu von Barcelona. Parallel zu ihrer Konzerttätigkeit hat sie eine intensive Lehrtätigkeit in Stimmbildung und Chorleitung ausgeübt. Sie hatte die musikalische Leitung bei: Lope de Aguirre Traidor von Sanchos Sinistierra, unter der Theaterregie von Karel Mena; Animalmusic Coproducción des Sommerfestivals von Barcelona Grec 2003 und La Korbata; Cançó d’Amor i de Guerra unter Martínez Valls; María Moñitos, ein kubanisches Musical, unter der Leitung von Alejandra Egido. 2013 hat sie beim Balam-Verlag ein Buch, Mi Técnica Vocal Paso a Paso (Meine Stimmtechnik Schritt für Schritt), sowie eine Reihe von Artikeln über Musik in der Revista Online ArtsEduca veröffentlicht. Sie hat Workshops zur Stimmbildung für Kammergesangsgruppen durchgeführt, sowie Vorträge über El Canto, su Técnica, el Solista y el Coro (Der Gesang, seine Technik, der Solist und der Chor) in der Aula Universitária von Baix Guinardó und in der Biblioteca Clarà von Barcelona gehalten. Sie wird als Jurymitglied zu internationalen Festivals in Polen (Internacional Krakow Choir Festival und Internacional Warsaw Choir Festival) sowie England (Internacional Goleen Nightingale Choir Festival) eingeladen. Derzeit schreibt sie Artikel für die Revista musical ArtsEduca, ist Gesangslehrerin an der Escuela Estudi Musical sowie Leiterin des Coral Esperit Cantaire und des Coro de Cámara Cantoría Requinto. Email: sopranosun@yahoo.es

 

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