Die Weltchorspiele (WCG- World Choir Games): Mehr als nur „Spiele“

  •  
  •  
  •  
  •  
  •  
  •  
  •  
  •  

Christian Ljunggren

Künstlerischer Direktor der Weltchorspiele

 

Die meisten Leser des International Choral Bulletin haben wahrscheinlich schon von dem großen Ereignis gehört, das alle zwei Jahre stattfindet. Vielleicht haben Sie auch schon daran teilgenommen, als Dirigent, Sänger oder in der Jury. Ich selbst besuchte das erste Mal solch eine Veranstaltung in Linz im Jahre 2000.

Seit dem Jahr 2002 und der Chorolympiade in Busan  (Korea) – so wurde die Veranstaltung damals genannt- bin ich einer der künstlerischen Direktoren dieser Veranstaltung. Und so war ich an den Vorbereitungen so unterschiedlicher Veranstaltungen wie Bremen 2004, Xiamen 2006 und Graz 2008 beteiligt. Meine Erfahrungen sind so unterschiedlich, die Erinnerungen so vielfältig und die mit den Ereignissen verbundenen Gefühle so überwältigend, dass ich vielleicht nicht die richtige Person für eine objektive Beschreibung der Veranstaltung bin. Da ich aber von dem IFCM darum gebeten wurde, werde ich es versuchen.

 

Treffpunkt für verschieden Chöre, Traditionen und Chorkulturen

Jedermann wird verstehen, dass bei den Weltchorspielen (The World Choir Games WCG) die Wettbewerbe in unterschiedlichen Kategorien eine wichtige Rolle spielen. Aber noch weitere Aspekte der Veranstaltung möchte ich hervorheben. Für mich ist das wichtigstes vielleicht, dass durch die bloße Größe der Veranstaltung ein Treffpunkt für Sänger aus der ganzen Welt geschaffen wird. Bei der Veranstaltung haben sich bis zu 20.000 Teilnehmer versammelt. Das bedeutet, dass man beispielsweise bei der Eröffnungsveranstaltung, wenn man sich umsieht, Menschen sehen und begrüßen kann aus Ländern, die man unmöglich alle bereisen könnte. Dirigenten können Freundschaften schließen mit Kollegen aus fernen Ländern. Sänger können sich über Sprachbarrieren hinweg zusammentun. Die „olympische“ Idee dieser Veranstaltung – dass nicht nur Sportler, sondern auch Sänger sich bei einem friedvollen Wettbewerb auf einer Weltveranstaltung treffen können – wurde von Günter Titsch und seinen Kollegen von INTERKULTUR aufgebracht, bevor ich mich dafür engagierte. Während der Chorolympiade in Linz 2000 wurde sie festgeschrieben. Diese Idee hat seitdem Sänger aus der ganzen Welt angezogen, auch aus Ländern, die früher an größeren Chorveranstaltungen nicht teilgenommen hatten. Die Anzahl der repräsentierten Nationen hat bei jeder Veranstaltung zugenommen. In Graz waren 93 Länder anwesend.

Die Verschiedenheit der Stile im Chorgesang ist eine wesentliche Komponente der Chorwettbewerbe. Dadurch wird es immer schwieriger, Entscheidungen bei den Wettbewerben zu treffen – und die Chorexperten stehen in der Tat zunehmend  unter Druck, sich mit Traditionen auseinanderzusetzen, mit denen sie bisher noch nicht so vertraut waren. Als allgemeine Tendenz zeichnet sich ab, dass mehr und mehr bedeutende „Gesangs“-Nationen außerhalb Europas „entdeckt“ werden. Wer von uns Europäern wusste denn vor einigen Jahren schon, wie stark die Chorbewegung in Ländern wie den Philippinen, Indonesien, Argentinien und Südafrika ist – nicht zu sprechen von China! Das muss schrittweise zu einer Veränderung des Konzeptes von Chormusik führen. Ein weiterer inspirierender Faktor ist, wie sehr solche Veranstaltungen die Grenzen zu anderen Kunstformen hin erweitern – beispielsweise zum Theater, zur szenischen Darstellung und zum Tanz. Wir mussten mehrmals unser Konzept überdenken, nur weil sich neue Typen des Chorgesanges und der Gesangstraditionen zeigten. Vor dem Ereignis aus Korea wussten wir nichts von der Existenz buddhistischer Chöre – um Ihnen nur ein Beispiel zu nennen.

Diese breite Palette der Gesangsstile wird allerdings nicht nur bei den Wettbewerben zur Schau gestellt. Sie kann auch – in allen Städten, die Gastgeber der Chorolympiade sind – auf den Straßen, in verschiedenen Konzerthallen, in Kirchen, auch in Hotellobbys, in Bussen und Restaurants beobachtet werden.

 

Eine vielfältige und breit gefächerte Erfahrung für die Sänger

Bei großen Chorereignissen steht meist das gemeinsame Singen im Mittelpunkt. Andere Festivals und Wettbewerbe beschränken sich auf das Element des Wettbewerbes. Aber wie ich es sehe, bietet die Chorolympiade WCG den Teilnehmern die verschiedenartigsten Erfahrungen. Gut, sie müssen sich während das Wettbewerbes 20 Minuten lang konzentrieren. Möglicherweise haben die Sänger an den vier Wettbewerbsstücken monatelang gefeilt! Aber abgesehen davon werden sie verschiedene andere Erfahrungen machen. Sie werden in einer entspannteren Atmosphäre auftreten, wenn sie an sogenannten Freundschaftskonzerten teilnehmen, bei denen einige Chöre zusammenkommen und auf den Straßen und in Parks gemeinsam auftreten. Manche Chöre werden eingeladen, reguläre Konzerte zu geben. Sie können auch an einem oder zwei der Massenveranstaltungen mit Chordarbietungen teilnehmen. Bei sogenannten Chorfeuerwerken kommen alle Sänger zusammen, um mit dem Veranstaltungsorchester aufzutreten. Dann haben sie natürlich Gelegenheit, die anderen Chöre zu hören oder sich von der weltweiten Musik inspirieren zu lassen. Die weniger weit fortgeschrittenen Chöre – und in der Tat ist jeder Chor willkommen – können von den fortgeschrittenen Chören lernen. Das ist natürlich besonders wichtig, da ein zunehmender  Anteil der Teilnehmer aus Kinder- und Jugendchören besteht. Es werden auch immer spezielle Konzerte arrangiert, in denen sich das Gastgeberland darstellt: die Aufführung der h-Moll-Messe von Bach in Bremen, die Chinesischen Abende in Xiamen, und die große TV-Show in Graz, die in ganz Europa gesendet wurde. Weiterhin muss erwähnt werden, dass man bei allen Chorolympiaden auch immer Uraufführungen zu hören bekommt. Bei den Wettbewerben mit zeitgenössischer Musik gehört eine Uraufführung zu den Pflichtstücken.

Ein weiterer Teil der Erfahrungen besteht natürlich auch aus nicht-musikalischen Eindrücken, dem Vergnügen, die besondere Kultur des Gastgeberlandes zu genießen. Bedenken Sie die Tatsache, dass die Chorolympiade in China und Korea stattgefunden hat. Und im Jahr 2010 wird sie nach China zurückkommen! Westlichen Sängern, besonders jungen Sängern, die in Länder wie diese kommen, öffnet sich neue Dimensionen, auch im musikalischen Erleben. So muss es auch für die vielen asiatischen Chöre gewesen sein, als diese nach Europa zu dem Veranstaltungen in Linz, Bremen und Graz kamen. Beispielsweise fanden 106 Chöre aus Asien den Weg zu der Chorolympiade nach Graz, also um die vier- bis fünftausend Menschen, die, vielleicht für das erste und einzige Mal, Europa besucht haben! Musikalische, kulturelle und weitreichende menschliche Erfahrungen können in diesem Fall nicht voneinander getrennt werden.

Vielleicht sollte auch erwähnt werden, dass manchmal auch unvorhersehbare Dinge geschehen, die die Teilnehmer nie vergessen werden. So der Hurrikan am ersten Tag der Chorolympiade in Xiamen, oder als die koreanischen Partner während einer Massenveranstaltung in Busan plötzlich und schnell tausende von Regenmänteln gegen den Dauerregen hervorzauberten und an die Teilnehmer verteilten.

 

Die pädagogischen Aspekte der Chorolympiade

Es sollte auch nicht vergessen werden, dass ein bedeutender Teil der Chorolympiade mit pädagogischen Beiträgen verknüpft ist. Wie bei dem Weltchorsymposium der IFCM versammeln sich auch hier viele Chorexperten aus allen Teilen der Welt. Auch wenn der pädagogische Aspekt nicht der Hauptzweck der Veranstaltung ist, wäre es doch eine Verschwendung, wenn diese Professoren der Chormusik oder die renommierten Dirigenten nur still in den Jurorengremien säßen. Daher werden bei jeder Chorolympiade auch begleitend Workshops und Seminare angeboten, deren Struktur jedes Mal variiert. In Korea gab es sie nur für koreanische Dirigenten. In Bremen wurden sie unter der Mitwirkung der IFCM angeboten, in Xiamen gab es parallel zwei Angebotsserien von Seminaren: eine für Chinesen und eine internationale. INTERKULTUR kooperiert zunehmend mit Chor- und Dirigentenorganisationen. Für die bevorstehenden Weltchorspiele 2012 in Cincinnati arbeiten wir zusammen mit der ACDA (American Choral Directors Association), dem amerikanischen Chorleiterverband.

 

Workshop in World Choir Games in Graz 2008 – Photo: Christian Ljunggren

 

Sowohl die Dirigenten als auch die Sänger werden zu den Workshops der WCG eingeladen. Besonders erfolgreich sind die  Seminare, in denen Chöre verschiedener Traditionen einander gegenübergestellt werden. Unterschiedliche Ausdrucksformen und Klangmischungen können vorgeführt werden und so Charakteristika der Chorstile den Teilnehmern erfahrbar gemacht werden. Letztes Jahr in Graz stellte der Seminarleiter André de Quadros beispielsweise Chöre aus Chile, Jamaica und Indonesien einander gegenüber und machte ihnen und den Teilnehmern des Seminars die verschiedenen Arten zu singen bewusst. Die Sitzung wurde immer lebhafter!

 

Workshop in World Choir Games in Graz 2008 – Photo: Christian Ljunggren

 

Die Wettbewerbe selbst haben jedoch auch ein eindeutig pädagogisches Element. Während der WCG gibt es keine Zeit für „Begutachtungsvorstellungen“, die den Chören bei anderen INTERKULTUR-Veranstaltungen angeboten werden – wenn sie ohne Bewertung vor den Mitgliedern der Jury singen, nur um Tipps und Ratschläge zu bekommen. Aber jedem teilnehmenden Chor werden Ratschläge hinsichtlich der Auswahl seines Repertoires gegeben. Vielleicht ist es nicht allgemein bekannt, dass jedes Stück, das von den Chören vorgetragen wird, zur Genehmigung und Beratung eingesandt wird. Wenn beispielsweise 250 Chöre an der Veranstaltung teilnehmen, und jeder Chor bei zwei Kategorien mit 4 Stücken vertreten ist, bedeutet das, dass 2000 Chormusikstücke gesichtet werden müssen. Dann nimmt das künstlerische Komitee vor der Veranstaltung Kontakt zu dem Chor auf und erteilt Ratschläge zu den ausgewählten Stücken. Wie bei allen Wettbewerben dient die Beurteilung der Jury nicht nur dem Zweck, den Gewinner des Wettbewerbes zu ermitteln, sondern fast ebenso wichtig ist der detaillierte Bericht der Juroren, dem der Chor die Meinung jedes einzelnen Jurors zu jedem aufgeführten Stück entnehmen kann. Es ist eine äußerst bedeutsame Tatsache, dass bei den WCG während der Preisverleihung jeder Chor und jeder Chorleiter anerkannt und eine Urkunde erhalten wird – nicht nur der Gewinner der Weltchorspiele!

In der Tat glaube ich, dass nur ein geringer Prozentsatz der teilnehmenden Sänger zu den WCG kommt, um zu siegen. Die meisten von ihnen kommen zu der Veranstaltung, um zu lernen und um sich musikalisch und menschlich weiter zu entwickeln. Deswegen bin ich so glücklich, dass es die WCG gibt. Wir freuen uns bereits auf die bevorstehenden WCG 2010 in Shaoxing, China, und 2012 in Cincinnati, USA. Die Weltchorspiele sind ist eine ernst zu nehmende Veranstaltung – nicht bloß ein Spiel!

 

E-mail: christian_ljunggren@spray.se

 

Aus dem Englischen von Manuela Meyer, Deutschland

 

 

PDFPrint

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *