Über die Kunst der Chormusik in Wroclaw (Breslau): Auf dem Weg zur Polyphonie. Ein Wettbewerb für Chorleiter

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Von Marta Kierska-Witczak, Chorleiterin und Lehrerin
Übersetzt aus dem Englischen von Silke Klemm, Belgien

 

Im Jahr 2016 wird Wroclaw (Breslau) Europäische Kulturhauptstadt. Das riesige Potenzial dieser tausendjährigen polnischen Stadt am Schnittpunkt verschiedener Handelsstraßen zeigt sich an der Entwicklung von Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft und Kultur. Kulturelle Einrichtungen, Universitäten und Kunstakademien, experimentelle Theateraufführungen des europaweit bekannten Jerzy Grotowski Labortheaters oder des Henryk Tomaszewski Pantomime Theaters, Konzerte, große Musik- und Theaterfestivals, wissenschaftliche Veranstaltungen – sie alle sind permanente Elemente der Kunstlandschaft der Stadt Wroclaw und ganz Niederschlesiens. Die Vielseitigkeit und Zwanglosigkeit dieser Kunstveranstaltungen veranschaulichen das ungeheuer kreative Potenzial dieser ”Stadt der hundert Brücken”. Dank der Anstrengung vieler Generationen polnischer Einwohner hat sich die Hauptstadt Schlesiens aus dem Nachkriegsruin erholt und bezaubert heute ihre Besucher mit dynamischer Farbigkeit, schöner Architektur und ihrer einzigartig faszinierenden kreativen Atmosphäre.

Heute harmonieren viele Traditionen und Kulturen miteinander. Auch die Chormusik, die auf die besondere Tradition des 19. Jahrhunderts zurückgeht, pulsiert mit spezifischem Rhythmus. Die damals zahlreichen aktiven Chorvereinigungen, z.B. die Singakademie (gegründet 1825), die evangelischen und katholischen Kirchenchöre und die Liedertafel-Chöre haben der Stadt zum Image einer pulsierenden, ja, mit der Musik atmenden Stadt verholfen. Aufführungen der größten europäischen Oratorien wurden hier vorbereitet und systematisch und mit Brio gestaltet, meistens ganz aus eigener Kraft.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Kunst der Chormusik trotz geänderter geopolitischer Bedingungen noch immer ein ungewöhnlich wichtiges Kultur schaffendes Instrument. Bereits 1945 haben sich die ersten Kirchenchöre auf dem Schutt der Stadt zusammen gefunden. Einer dieser Kirchenchöre, der auf der reichen Erfahrung der akademischen Chorkunst in Lvov (Lemberg) vor dem Krieg basierte, traf in Wroclaw auf die legendären Professoren der örtlichen Technologieschule. Seither wurden dort akademische und professionelle Chöre, Kirchenchöre, Kinder- und Jugendchöre entsprechend ausgebildet. Der ausgezeichnete Dirigent und polnische Pionier der Nachkriegs-Aufführungen von Alter Musik, Edmund Kajdasz, leitete 40 Jahre lang die Chöre, die er in Wroclaw gegründet hatte.

2001 wurde in unserer Stadt mit dem polnischen Entwicklungsprogramm für Schulchöre POLEN SINGT begonnen. Zur Zeit gibt es hier mehr als ein Dutzend akademischer Chöre, die bei fast allen polnischen und europäischen Wettbewerben ihre Lorbeeren gewinnen. Außerdem ist der polnische nationale Jugendchor, dem junge Sänger aus dem ganzen Land angehören, hier beheimatet. Dank der Initiative und Kreativität vieler Dirigenten kann man Konzerte mit Kammermusik, Alter Musik, oder auch großen Oratorien besuchen, zu deren Aufführungen Sänger aus der ganzen Stadt eingeladen werden. Dieses ungewöhnlich starke Interesse an der Kunst der Chormusik in Wroclaw ist unter anderem darin begründet, dass die Dirigenten der meisten Wroclawer Chöre aus der Karol Lipinski Musik Akademie in Wroclaw hervorgegangen sind, einer Fakultät für Musikerziehung, Chor- und Kirchenmusik, die seit etwa 65 Jahren ständig Lehrer, Pädagogen und Dirigenten ausbildet.

991 wurde in dieser Fakultät die Idee zu einem internationalen Wettbewerb für Chordirigenten: AUF DEM WEG ZUR POLYPHONIE geboren. Diese einzigartige Polyphonie der Kulturen: Ideen zu Interpretation, Klangfarbe und Klangbild, Technik des Dirigierens, Aufführungen in der Originalsprache, und vor allem polyvokale Treffen junger Menschen aus aller Herren Ländern, Nachwuchsdirigenten, die den flackernden Schein von Freundschaft und Zusammenarbeit in ihre Chöre tragen, all das ist die Idee hinter unserem Wettbewerb, das Konzept für Zusammenarbeit, ein Konzept für ein Europa ohne Grenzen und Hemmnisse, wie Professor Zofia Urbanyi-Krasnodebska, die Gründerin des Wettbewerbes, Lehrerin an der Fakultät und langjährige Leiterin der Jury, schon vor zwanzig Jahren schrieb. Als Mitglied des Lehrkörpers der Musikakademie suchte sie ständig nach neuen, unkonventionellen Ausbildungsmethoden für künftige Chorleiter, zum Beispiel gründete sie neue Konzertzyklen zur Förderung der Begabtesten unter den Studenten. Schließlich etablierte sie – sozusagen auf der musikalischen Landkarte Zentraleuropas – einen neuen ehrgeizigen Wettbewerb für Chordirigenten, die sogenannte Musikalische Ost-West- Brücke für Studenten. Das Turnier verfolgte das Ziel, die damals beinahe unüberwindlichen politischen Barrieren einzureißen, um wieder aus der reichen Musik-Tradition zu schöpfen und in die Zukunft blicken zu können. Ein hehrer Versuch, die kommenden Generationen der begabtesten Dirigentenausbilder und somit indirekt viele Choristen im noblen Wettkampf aus und weiter zu bilden.

Die jüngste Ausgabe des Wettbewerbs fand vom 10. bis 13. Dezember 2014 unter der Schirmherrschaft des Ministeriums für Kultur und nationales Kulturerbe, der niederschlesischen Woiwodschaft, des Präsidenten der Stadt Wroclaw, des Rektors der Karol Lipinski Musik Akademie (KLAM) und des italienischen Ehrenkonsuls hier in Wroclaw statt. Wie immer wurde er von der Fakultät für Musikerziehung, Chorkunst und Kirchenmusik sowie der Abteilung für Chor- und Kammerchorleitung der KLAM organisiert. Es handelt sich tatsächlich um die einzige Veranstaltung von größerer Bedeutung in Polen, die junge Fachstudenten aus ganz Europa anzieht. Die traditionell große Gruppe von Teilnehmern setzte sich diesmal aus je drei Letten und Ukrainern, zwei Russen und je einem Weißrussen, Israeli und Slowenen zusammen. Polen wurde von fünf Teilnehmern vertreten. Nach einer ersten Zuordnung von eingereichten Aufnahmen (im September 2014) wurden 16 Dirigenten zugelassen.

Sie trafen in drei Etappen auf ein facettenreiches Repertoire. Am Anfang standen Stücke von Karol Szymanowski (Kurpie – Gesänge, aufgeführt vom Akademischen Chor Feichtinum der KLAM, Dauer etwa 20 Minuten), die vor allem für ausländische Dirigenten eine große Herausforderung darstellen. Die speziell polnische Melodien- und Harmonienwelt dieser relativ kurzen Stücke können – was die Interpretationsschwierigkeiten angeht – mit Mazurkas von Frederic Chopin verglichen werden, die eine außerordentliche Herausforderung für Klavierspieler darstellen, obwohl ihre Struktur so einfach scheint. Unter Berücksichtigung der oben genannten Schwierigkeiten stiftete Professor Krasnodebska den Spezialpreis für die beste Leistung bei einem Stück von Karol Szymanowski. Den Preis bekam Viacheslav Larin (aus Minsk, Weißrussland)

Die zweite Etappe hatte nur acht Teilnehmer, die sich auf die Musik der Renaissance und des Frühbarocks spezialisiert hatten, auf Madrigale von Claudio Monteverdi und Motetten von Heinrich Schütz (gesungen vom Cantus Animae Vokal Ensemble). Diese Etappe, die für die Kandidaten womöglich etwas weniger schwierig war (40-Minuten Probe), offenbarte die Mannigfaltigkeit der unterschiedlichen Dirigentenpersönlichkeiten. Die Beurteilung einer gewählten Arbeitsweise, ihre Wirksamkeit, die Fähigkeit eines Dirigenten, das Klangbild des Ensembles zu entwickeln, die am besten passende Aussprache durch Annäherung an den Text zu wählen, und dann die Beurteilung der Schlagtechnik sowie der Glaubwürdigkeit der Interpretation, alle diese Faktoren flossen in die finale Beurteilung durch die Jury ein. So konnte die Jury den besten Interpreten auswählen – der Spezialpreis für die beste Aufführung eines Stückes von Claudio Monteverdi ging an Dawid Jarzab (aus Wroclaw, Polen).

Bei der dritten und letzten Etappe (60 Minuten Prüfung) ging es um die Interpretation polnischer und europäischer zeitgenössischer Musik – das Programm umfasste Stücke von Krzysztof Penderecki, Arvo Pärt, Ana Gnjatovic, Pawel Lukaszewski sowie zwei Stücke von Wroclawern – Agata Zubel und Rafal Augustyn – aufgeführt vom Nationalen Musikforum Chor. Ein schwieriges Programm, das den fünf Finalisten technische Kompetenz und eine reife Herangehensweise an das musikalische Material abverlangte. Es waren Jurgis Cabulis (aus Lettland), Dawid Jarzab (aus Polen), Viacheslav Larin (aus Weißrussland), Beata Snieg (aus Polen) und Juval Weinberg (aus Israel): Unterschiedliche Persönlichkeiten mit unterschiedlichem Background, unterschiedliche Art der Kommunikation mit dem Chorensemble, mehr oder weniger zutreffende Interpretationen. Das endgültige Urteil der Jury entsprach dem Gesamteindruck, der neben der rein technischen Qualifikation – wie immer bei einem Künstler – noch ein gewisses Etwas vermittelte, nämlich die nonverbale Fähigkeit, das Ensemble für sich einzunehmen, zusammen mit ihm und den Zuhörern die eigene Leidenschaft und die künstlerische Faszination zu teilen. Und so ging der erste Preis, der Preis der Mitglieder der Abteilung für Chor und Kammerchorleitung der KLAM, sowie der Preis der Wettbewerbschöre an den bereits erwähnten Yuval Weinberg. Er wurde in Israel geboren, hat einen Abschluss von der Hochschule für Musik in Berlin und studiert derzeit in Norwegen. Der zweite Preis ging an Viacheslav Larin, der an der weißrussischen staatlichen Musikakademie in Minsk studiert, und der dritte Preis ging an Dawid Jarzap, der seinen Abschluss an der Fakultät für Musikerziehung gemacht hat und symphonisches Dirigieren an der Karol Lipinski Musikakademie in Wroclaw studiert. Ein Vertreter der lettischen J.Vitols Musikakademie in Riga bekam die Auszeichnung und den Spezialpreis in Form eines eigenen Konzertprojekts, während der Spezialpreis des italienischen Ehrenkonsuls in Wroclaw an Beata Snieg von der S. Moniuszko Musikakademie in Gdansk (Danzig) ging.

In der Jury saßen ausgezeichnete Experten, erfahrene Dirigenten, die aus verschiedenen europäischen Zentren angereist waren: Professor Inessa Bodyako von der weißrussischen staatlichen Musikakademie, Professor Jasenka Ostojic von der Musikakademie in Zagreb, Kroatien, Professor Andrea Angelini aus Rimini, Professor Stanislaw Krawczynski von der Musikakademie in Krakau, Polen. Die Autorin dieses Textes war Vorsitzende der Jury und fungierte gleichzeitig als Wettbewerbsmanagerin.

Die drei Etappen der Wettbewerbsveranstaltungen und das Konzert der Preisträger fanden in der neuen Konzerthalle der Wroclawer Musikakademie statt, die eine ausgezeichnete Akustik aufweist.

Es war uns Organisatoren eine große Freude, die Zufriedenheit mit der Wettbewerbsarbeit und den finalen Aufführungen auf den Gesichtern der Chorensembles, der Dirigenten und Zuhörer zu beobachten. Dass sich die Studenten der Wroclawer Musikakademie so stark einbrachten, hat uns auch sehr gefreut. Ohne ihre Mitarbeit wäre so ein großer Wettbewerb kaum möglich.

Ich möchte Sie einladen, die Website des Wettbewerbs (www.forwadspolyphony.pl) und das gastfreundliche Wroclaw für das nächste Turnier im Dezember 2016 zu besuchen, um unseren großen Optimismus und unsere Hoffnung mit Ihnen zu teilen. Wieder einmal haben wir erfahren, dass die Chormusik nach wie vor eine junge, frische und faszinierende Kunstrichtung ist. Immer häufiger vermögen ausgezeichnete Dirigenten die Sänger zu begeistern. Der diesjährige Wettbewerb TOWARDS POLYPHONY fiel mit der Feier des Weltchortags zusammen, ein Zeichen dafür, dass wir zusammen mit tausenden jungen und älteren Chorsängern durch die Musik eine neue bessere Wirklichkeit schaffen wollen. Das meinte der polnische Poet Cyprian Kamil Norwid, als er sagte:

” Weil die Schönheit die Wonne der Anstrengung ist, erweckt die Anstrengung zu neuem Leben”

 

Möge solche Wonne und Anstrengung jeden von uns begleiten und uns Zufriedenheit und wahre Freude schenken.

 

Marta Kierska-Witczak hat an der Karol Lipinski Musikakademie in Wroclaw ihren Master of Arts mit Auszeichnung abgeschlossen. Heute hat sie dort eine Professorenstelle. Sie arbeitete bei zahlreichen Projekten mit vielen Chören und Kammerorchestern, sie betreute Aufbaustudien und leitete Workshops im Rahmen von Erasmus- und Ceepus Programmen. In verschiedenen Universitäten gab sie Gastvorlesungen, z.B. in Bulgarien, Weißrussland, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Deutschland, Italien, Rumänien und Spanien. In Polen und im Ausland (in Frankreich, Norwegen und Deutschland) leitete sie Workshops mit verschiedenen Chören, um Alte und zeitgenössische polnische Chormusik zu erarbeiten. Sie ist Chefin der Kirchenmusikabteilung der KLAM, wo sie eine Menge Initiativen unterstützt – Konzerte, Symposien, Workshops, etc. Seit 1993 ist sie künstlerische Leiterin und Dirigentin des CONSONANZA Kammerchors der Technischen Universität in Wroclaw, der an vielen Festivals und Wettbewerben teilnimmt und viele Preise und Auszeichnungen gesammelt hat. Auch als Gastdirigentin anderer Chöre hat sie Preise und Auszeichnungen erhalten. Neben Consonanza dirigiert sie noch zwei andere Ensembles, zum Beispiel Cantus Animae, und ist Jurymitglied bei vielen weiteren Wettbewerben. Beim Internationalen Chordirigenten Wettbewerb TOWARDS POLYPHONY, der 2014 von der KLAM in Wroclaw veranstaltet wurde, hatte sie den Vorsitz der Jury.

 

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