Roland Hayrabedian, Chor- und Orchesterdirigent, Marseille, Frankreich
Anlässlich des Gedenkens zum 100. Geburtstag des Komponisten Xenakis wird mir bewusst, dass ich seiner Musik immer wieder mit einer Mischung aus Freude und Ernst begegne. Wenn ich dieses oder jenes Stück von Xenakis dirigiere, frage ich mich, besonders auch in diesem Jahr, welches die Gründe dafür sind, dass ein und dasselbe Werk für mich zwei Gesichter zu haben scheint. Ohne Zweifel stimuliert die den Vokalwerken von Xenakis zugrunde liegende Energie in unglaublichem Maße die Fähigkeit, sich nach ihrer Aufführung gleichsam als ein anderer Mensch wiederzufinden. Die von seiner Musik ausgehende Energie bewirkt, dass wir trunken und wie verwandelt aus ihr auftauchen, gleichsam wie aus einem musikalischen Ritual. Meiner Meinung nach speist sich diese Energie aus den Lebensadern der Mittelmeerkultur und verleiht Xenakis’ Musik diesen vitalen und notwendigen Elan. Ihr Ernst ensteht für mich daraus, dass die von Xenakis beschworenen dunklen Kräfte uns an die geschlagenen und noch zu schlagenden Schlachten erinnern, an das menschliche Schicksal, welches die Kassandren, Pythien oder andere großartig erfundene und durch die Kraft unserer Erzählungen noch großartiger gewordene Gottheiten bis ans Ende der Zeiten immer und immer wieder beschwören werden.
Aber wo ist der Architekt in all dem? Ganz sicher gibt es, vor allem seit den 1980-er Jahren, in Xenakis’ Vokalmusik diese berühmten Glissandi, die, wie mit Bleistift gezeichnet, den Abgrund entstehen lassen. Es gibt diese vokalen Klangmassen, die nebeneinander stehen, aneinander stoßen und zu ihren Gunsten den Text zum Verschwinden bringen. Der Sänger stützt sich auf Phoneme, deren Sinn im Moment des Vortrages wenig Bedeutung hat. Die Worte, auch wenn sie einen Sinn haben, sind nur Phoneme, die ihres Klanges wegen ausgewählt wurden; sie sind Teil eines organisierten und paradoxerweise auf zwingenden rhythmischen Werten konstruierten Chaos. Die Schwierigkeit ist groß für den Interpreten, aber er muss verstehen, dass er ein Stein im zu erbauenden Gebäude ist, dass seine Energie es ermöglichen wird, die Schichten der Struktur auszubreiten, dass es manchmal, oft sogar, unmöglich ist, die Sache in perfekter Weise zu singen, diese aber transzendiert wird durch die eingesetzte Kraft, durch die musikalische (architektonische) Geste, welche über das Detail die Oberhand gewinnt. Die großen Kraftlinien erscheinen dem Hörer wie tausend unsichtbare Punkte. Genau hier ist das Auge zum Ohr des Architekten geworden.
Aus diesen Klangmassen, bestehend aus Glissandi, Haltetönen, punktuellen Klängen, tritt das Gebäude hervor, das der Musiker-Architekt mit den Sichelschlägen aus einem von Details überquellenden Universum errichtet. Er legt die großen Linien frei, bemächtigt sich des Klangs, um den Raum zu bezeichnen. Diese räumliche Vorstellung – in Nekuia beispielsweise – wird über eine Rhythmik bewirkt, die den Klang von einem Pult zum nächsten verschiebt. Die dadurch entstehende Dimension des Echos zeichnet die Grenzen des Ortes, an dem sich das musikalische Ritual abspielt.
Mein erster Kontakt als Orchesterdirigent mit Xenakis’ Musik erfolgte über das Werk Die Orestie. Der Komponist musste sich von dem Mythos um die Atriden angesprochen fühlen. Denn das vom Mythos verkündete Chaos, angetrieben von den Kräften des Schicksals, den Unbilden und Stürmen innerhalb einer Familienlinie, bildet ein Echo zum Aufruhr der entfesselten Elemente, welcher, so scheint es, Xenakis nahe ging und ihn besonders beschäftigte. Das Tosen der Elemente, das ist es, was der Hörer vernehmen kann, wenn er ein Werk von Xenakis hört, aber der Interpret, der MENSCH, ist meistens im Zentrum selbst des Unwetters. Sicherlich, in den frühen Werken – beispielsweise in der Orestie – oder ebenso in A Colone und A Hélène – besteht ein eher schwacher Bezug zwischen Text und Musik. In der Musik dieser Kompositionen spürt man die Grausamkeit in der Götterwelt ebenso wie in der Menschenwelt, und dennoch gewinnt die Nachsicht – wie zum Beispiel am Ende der Orestie – die Oberhand über Rachegelüste und Zorn. Es ist mir immer so vorgekommen, als ob in den neueren Werken (Serments, Le chant des Soleils etc.) Xenakis’ Musik dazu einlädt, das Ideal des menschlichen Wesens inmitten des lärmenden Getöses wiederzufinden, sich den Menschen in der großen Trommel der Zeit und der Elemente reingewaschen von allem Schmutz vorzustellen. Das Auge des Zyklons als einziger Notausgang.
Wahrscheinlich einer der bestimmenden Charakterzüge des Menschen, der Iannis Xenakis war.
Roland Hayrabedian gründet 1987 Musicatreize. Mit diesem Ensemble hat er mehr als 300 neue Werke uraufgeführt. Er dirigiert zahlreiche orchestrale und vokale Formationen, wie zum Beispiel Chor und Orchester Radio France, das Philharmonische Orchester Marseille, den Nederlands Kamerkoor… Im Jahr 2022 dirigiert er Waarg, Phlegra und l’Orestie von Xenakis mit dem Ensemble Unitedberlin in Hamburg, Berlin, Marseille. Mit Musicatreize als zentrale Achse bleibt die Arbeit mit zeitgenössischen Komponisten, zu denen eine enge Beziehung aufgebaut wird und mit denen Projekte mit vielfältigen Facetten verwirklicht werden.
Übersetzt aus dem Französischen von Manuela Meyer, Deutschland