Innovative Ideen für die Arabische Chormusik

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Rahib Haddad, Chordirigent

 

Vor 20 Jahren baten mich einige junge Leute eines Clubs in Shefa’amr, der Stadt, in der ich wohne, einen gemischten Chor aufzubauen, der vom Jugendclub von Shefa’amr gesponsert werden sollte. So beschlossen wir, in einem bescheidenen Gebäude irgendwo in der Altstadt eine reiche musikalische Zukunft zu begründen und Shefa’amr, eine kleine Stadt in Galiläa, auf die Chorweltkarte zu setzen. Heute kann ich ohne weiteres sagen, dass die Anzahl der Chorsänger in Shefa’amr proportional größer ist als in allen anderen Städten der arabischen Welt. Damals war ich Pianist und Lehrer, arbeitete in verschiedenen arabischen Städten und Dörfern in Israel und versuchte arabischen Kindern Freude an der Musik zu vermitteln.

Ich begann also, das Projekt unter verschiedenen Aspekten zu betrachten: Wie sollte ich Sänger auswählen? Wie viele Stunden pro Woche sollten sie proben? Welche Musik sollten wir singen? Sollte ich ein Instrumentalensemble zur Begleitung der Sänger aufbauen? Woher würden wir finanzielle Unterstützung bekommen? Ich fühlte mich allein auf weiter Flur, weil Chormusik nicht üblich war und es keine professionellen arabischen Musiker auf diesem Gebiet gab. Wir konnten auf keinerlei historisch dokumentierte Informationen bezüglich spezieller Kompositionen für Chor zurückgreifen, obwohl irgendwann einmal erwähnt wurde, dass die Gattung des muwashshah aus dem 10. Jahrhundert in Andalusien (Spanien) speziell für das Singen in Gruppen oder Chören geschaffen worden war.

Des weiteren gab es keine Chöre in der arabischen Welt außer in Kirchen und in „Zikr“-Gruppen in Moscheen. Jedoch können diese nicht als Chöre im eigentlichen Sinn betrachten werden. Aufgrund der politischen Situation konnte ich für eingehende Studien und Forschung kein arabisches Land außer Ägypten besuchen. So beschloss ich ein Chormodell zu entwickeln, das westliche Konzepte und Grundlagen mit orientalischen Konzepten und Anforderungen verband.

Deshalb wählte ich Mitglieder nach ihrer Musikalität aus, nicht aufgrund ihrer schönen Stimme. Ich hatte mich entschlossen, es als „Singen in der Gruppe“ zu deklarieren. Sologesang ist überall üblich. Es war nicht leicht die Leute mit wunderbaren Stimmen zu überzeugen, in einem Chor mitzumachen, und mein neuer Stil war alles andere als individueller Gesang, der nicht selten von Eigennutz und autoritärem Gehabe bestimmt ist.

Diese Art von Individualität ist durch diktatorische und patriarchalische Herrschaft, soziale und politische Systeme geprägt worden, und das stärker in arabischer Vokalmusik als in der Instrumentalmusik. Ich konzentrierte mich darauf, die Gruppe durch das Singen spüren zu lassen, dass die Gemeinschaft einen starken Einfluss auf das gemeinsame Schicksal hat, indem sie Toleranz übten, sich gegenseitig unterstützten, aufeinander hörten und fühlten, dass jeder den Einzelnen stützt und der Einzelne wiederum die Gruppe als Ganzes. Diese Werte sollten der Chorarbeit nutzen und dazu beitragen, eine aufgeschlossene arabische Gesellschaft zu entwickeln.

Al Baath (Revival, Wiederbelebung) wurde als Name für den Chor gewählt. Das Ziel war rein fachlich; denn wir waren entschlossen, das arabische Liedgut wiederzubeleben und es in der Gruppe nachzusingen, weit ab von Solo-Improvisation und Solo-Performance. Improvisation ist eines der markantesten Merkmale der arabischen Musik, und die Improvisation kommt vor allem vom Sologesang und nicht aus der Gruppe. Deshalb musste ich die Lieder notieren, so dass der Chor sie korrekt ausführen und schön vortragen konnte.

Es gelang uns, das Sololied in ein kollektives Chorgenre umzuformen. Es gab keine Kompositionen für Chor außer jenen für Gebete in der Kirche. Die meisten davon waren nicht dokumentiert bzw. in Noten niedergeschrieben und deshalb nicht direkt greifbar. Also musste ich die Lieder selbst notieren und die Musik durch wiederholtes Üben vermitteln. Meine Aufgabe war einfach, weil die Lieder Teil ihres musikalischen Erbes waren.

Ganz am Anfang fragte ich niemanden, etwas für den Chor zu komponieren. Ich konzentrierte mich darauf, unser Erbe zu erforschen und es mit meiner eigenen Methode wiederzubeleben. Ich beschloss, mich mit unseren traditionellen Komponisten, wie z.B. Sayyed Darweesh, den Rahbani Brothers und anderen aus dem 19. und 20. Jahrhundert zu beschäftigen, wie das der Westen mit seinen großen Komponisten getan hat, indem ihre Kompositionen vielfältig und stilistisch unterschiedlich interpretiert wurden.

Ich verwendete weder Polyphonie noch Harmonik, weil ich es nicht gewohnt war einen Akkord, der streckenweise  aus Vierteltönen bestand, zu hören und zu analysieren. Und es klang für mich wie eine stechende Dissonanz. Ich fühlte auch, dass die orientalische Musik ihren Stil und ihre Eigenheit verlieren würde, wenn ich mit klassischen westlichen Methoden an sie heranging, wenn auch auf vokaler Ebene.

Die Instrumentalbegleitung war auch problematisch, weil ich auf dem Klavier keine Vierteltöne spielen konnte. Obwohl ich eine spezielle Methode für das Klavierspiel entwickelte, spielte ich oft um die Tonart herum und nicht detailgetreu. Manchmal benutzte ich das orientalische Keyboard, um zu versuchen, die Vierteltöne zu spielen. Eines der wesentlichen Merkmale der orientalischen Liedform ist die Rhythmik, das poetische Versmaß passt zum musikalischen und wird begleitet von Rhythmusinstrumenten wie der durbakki. Aber aufgrund knapper finanzieller Mittel bemühte ich mich nicht darum, diese Instrumente miteinzubeziehen. Ich war also selbst Arrangeur, Instrumentalist und Chorleiter in einem.

Um die Dinge einfach und flexibel zu gestalten, begann ich  mithilfe von Bishara Khill – einem Arrangeur/Komponisten – nach meinen eigenen Vokalarrangements ein instrumentales Playback einzuspielen. Wir beide waren Pioniere auf dem Gebiet, vokale und instrumentale Arrangements zu erfinden, was als eine Innovation im arabischen Gesang betrachtet werden kann. Es verlangte große Präzision und zu viele Proben

Nach mehreren Jahren intensiver Proben zwei Mal in der Woche ernteten wir die Früchte unserer Arbeit durch große Erfolge, die dazu führten, dass das lokale Publikum ‚Al Baath‘ bewunderte und als kulturelles Phänomen betrachtete. Der Chor gewann nun Anhänger. Junge Leute in Städten, die fast keine Angebote an kulturellen Aktivitäten hatten, begannen sich mehr für den Chor zu interessieren, entweder indem sie in den Chor eintraten oder um mehr Aufführungen baten.

Wir begannen, die Musik unseres Chores überall auf Rekordern zu hören. Trotz des angespannten Budgets stellte es sich heraus, dass der ‚Al Baath Chor‘ ein Idealmodell in palästinensischen arabischen Städten war. Es war ihm gelungen, ein neues kulturelles und musikalisches Klima zu schaffen. Es ist das zweite Zuhause für seine Mitglieder und deren Familien geworden. Dies brachte Feierlichkeiten, Feste und Galas mit sich. Wir regten auch Freizeitaktivitäten und Studienreisen mit Ehepartnern an, weil wir glaubten, dass die enge Verbundenheit unter den Mitgliedern eine angenehme Atmosphäre für das Proben und Singen schaffen würde/schüfe.

Nach einer langen musikalischen Reise und mit der Hilfe von Isam Nassrallah, dem Chormanager, und des Konvents der Schwestern von Nazareth in Shefa’amr war ich in der Lage, den ‚Sawa Center‘ – ein unabhängiges Zentrum für Kultur – zu eröffnen und zu leiten. Das Zentrum ist für ‚Al Baath‘ und für andere Chöre, die daraus hervorgingen, ein Zuhause geworden.

 

Sawa Choir in a workshop with prof. Andre de Quadros
Sawa Choir in a workshop with prof. Andre de Quadros

 

Folgende drei Hauptprojekte bereichern das Chorleben:

Heisa

Ich bat Radi Shehadeha, einen palästinensischen Autor und Regisseur, für Al Baath ein Musical zu schreiben, ein neues Arbeitsprojekt, das nicht weit verbreitet ist in der palästinensischen Bevölkerung von Israel. Der Chor begann mit dem Musical-Projekt, das die meisten der arabischen musikalischen Genres wie z.B. Muwashshah, Dawr, Taqtooqa und Mawal aufgriff.

Stimmen für den Frieden

Ein großes Projekt führte Al Baath (arabisch), das Collegium Tel Aviv (jüdisch), and Timna Brawer (jüdische Sängerin aus Wien) mit Eli Meiri zusammen. Ziel des Projekts war das gemeinsame Singen von 3 Religionen: dem Judentum, dem Christentum und dem Islam.

Nach intensiven Proben und großem Einsatz der Chormitglieder war Al Baath schließlich in der Lage, vierstimmig zu singen (obwohl der Chor keine Noten lesen konnte). Dieses Projekt, welches außerdem auf ein gemeinsames friedliches Miteinander von Juden und Arabern abzielte, war auch ein musikalischer Quantensprung für den Chor. Allmählich wurde im Chor mehrstimmiges Singen möglich.

Konzert  “Ishtaqtillak”

Dieses Konzert war ein weiterer Quantensprung für den Chor, weil er nun mit einem gemischten ost-westlichen Ensemble von 12 Spielern (Arabern und Juden) auftrat.

Das Werk bestand aus hervorragenden Instrumentalarrangements von jüdischen und arabischen Musikern anhand meiner eigenen Chorarrangements. In diesem Werk entwickelte ich eine neue Konzeption und Herangehensweise für Chorarrangements. Ich begann hauptsächlich, spezielle musikalische Phrasen zu arrangieren, in denen ich wie ein Solist singen ließ, der den poetischen  und musikalischen Rhythmus manipuliert. Außerdem verschmolz ich mehrere Lieder, in denen Melodien, Worte und Rhythmus miteinander vermischt wurden, um eine Atmosphäre von „Audio-Chaos“ zu erzeugen, die die Aufmerksamkeit des Publikums auf einen neuen Aufführungsstil lenken sollte.

Ein Artikel reicht nicht aus, um meine lange musikalische Reise ausführlich zu beschreiben. Ich wollte lediglich vermitteln, dass in diesem Teil der Erde voller politischer und ökonomischer Schwierigkeiten, Gewalt und Kriegen, Rassenverfolgung und –bedrohung ein Licht der Hoffnung scheint in einer kleinen Stadt im Hügelland von Galiläa (die nicht mehr als 40 000 Einwohner hat). In dieser Stadt an der Mittelmeerküste, 20 Kilometer von Nazareth, singen und musizieren wir, reflektieren unseren Leidensweg und halten unseren Optimismus auf eine bessere Zukunft für unsere Kinder und jungen Leute aufrecht.

 

 

Rahib HaddadRahib Haddad, ein palästinensischer arabischer Bürger Israels, lebt in Shefa’amr in Galiläa. Er studierte Musik an der Universität von Tel Aviv bei Prof. Avner Itai, der sein Lehrer in Dirigieren war. Rahib Haddad ist Dirigent, Musikdirektor und Pionier der arabischen Musik in Israel und hat in zahlreichen Städten im arabischen Sektor verschiedene Chöre für Kinder und Jugendliche initiiert und etabliert. In Shefa’amr gründete und leitete er mehrere Jahre ein Bläserensemble für junge Muslime, Christen und Drusen. Zu seinen zahlreichen beruflichen Lehrtätigkeiten zählt sein Lektorat in Arabischer Musik an der Jerusalemer Musikakademie. Haddad ist sehr engagiert in der Wiederbelebung und Neuausformung der arabischen Musikkultur, vor allem was das Chorwesen betrifft. Er hat besonders in Shefa’amr ein starkes Bewusstsein für arabische Chormusik geweckt. Zur Zeit leitet er drei Chöre: den Al Baath Chor, den Sawa Chor, and den Sawa Kinderchor. Seit 1997 ist er Musikdirektor des Sawa Centers im Sisters of Nazareth Convent/Konvent der Schwestern von Nazareth in Shefa’amr, einer der bedeutendsten kulturellen Zentren im arabischen Sektor Galiläas. E-Mail: rahibh@gmail.com

 

Übersetzt aus dem Englischen von Barbara Schreyer, Deutschland

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